Fürsorge und Menschenverachtung
Julius Tandler. Der herausragende Sozialpolitiker des Roten Wien wurde wegen seiner inhumanen Gedankenwelt in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt. Zu Recht?
Sechs Hemdchen, sechs Jäckchen, ein Tragkleid, 24 Windeln, zwei Flanelle, ein Badetuch, eine Säuglingsdecke, eine Hautpflegegarnitur. Das „Säuglingswäschepaket“von 1927 gilt als eine der großen Errungenschaften der Wiener Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit, es stand Müttern aller gesellschaftlichen Schichten zu und hat sich als „Wickelrucksack“bis heute erhalten. Damit auch alle Schwangeren Bescheid wussten, stellte man das Säuglingspaket damals in Wien auf Plakaten vor: „Kein Wiener Kind darf auf Zeitungspapier geboren werden.“Es war zugleich ein Wahlschlager für die regierende Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), die Opposition tat sich schwer, die „Wahlwindel“zu kritisieren.
Erfinder des Säuglingspakets war der für Gesundheit und Fürsorge zuständige Stadtrat Julius Tandler (1869–1936), er gilt wegen seiner Innovationen im Sozial- und Gesundheitswesen als herausragender Sozialpolitiker des Roten Wien, geriet aber trotz seiner humanen Politik für die Hungernden und Kranken der Nachkriegszeit ins Zwielicht.
Ihm ist der Aufbau eines modernen Für- sorgenetzes zu verdanken, das internationalen Modellcharakter erhielt, zugleich zeigte er sich dem inhumanen eugenischen Gedankengut seiner Zeit („lebensunwertes Leben“) so sehr verpflichtet, dass er in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt wurde. Dass Tandler Sozialist, Jude und Freimaurer, für die Nazis also per se ein rotes Tuch war, war kein Hindernis für diese Einordnung.
So geriet Tandler bis heute immer wieder in den Fokus des parteipolitischen Hickhacks, er wird ins Spiel gebracht, um die Glaubwürdigkeit der SPÖ in Fragen des Antifaschismus in Zweifel zu ziehen. Wirfst du mir meinen Karl Lueger oder Engelbert Dollfuß vor, so werfe ich dir deinen großdeutsch denkenden Karl Renner oder Julius Tandler vor! Bei Diskussionen um politisch fragwürdige Straßennamen oder Denkmäler taucht in diesem undifferenzierten „Tu quoque“mit Sicherheit auch der Julius-TandlerPlatz im neunten Bezirk auf.
Dass Tandler zwar inhumane und menschenverachtende Ideen vertrat, sie aber nicht in seine reale Politik einfließen ließ, und seine Partei nicht davon infiziert wurde, macht die Aufarbeitung auch nicht leichter. Eine wissenschaftlich fundierte Darstellung der fragwürdigen Positionen Tandlers ohne polemisch-bösartige Parteinahme war fällig. Sie liegt nun vor. Der Zeitgeschichtler Peter Schwarz liefert in seinem Buch nicht nur eine Monografie des Mediziners und Politikers Julius Tandler, etwa unter Auswertung seiner Reden im Wiener Gemeinderat, sondern auch eine Darstellung der sozialdarwinistischen, rassenhygienischen und bevölkerungspolitischen Ideen, die damals in Österreich kursierten. Ziel seiner Untersuchung war eine Klärung, ob Tandlers wissenschaftliche Positionen der NS-Rassenhygiene Vorschub geleistet haben.
Nicht um Fürsorge betteln müssen
Die gesundheitliche Situation der Wiener Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg war, auch durch die starke Zuwanderung, katastrophal. Rachitis, Tuberkulose, (Erb-) Syphilis grassierten, die Kinder- und Säuglingssterblichkeit war wegen der Unterernährung hoch. Tandler, seit 1920 Ordinarius für Anatomie an der Wiener Universität, wurde politisch aktiv: zunächst in der Regierung Renner, als er ein Krankenanstaltengesetz durchsetzte. Spitäler wurden ab da von öffentlichen Stellen, nicht mehr nur durch wohltätige Fonds finanziert. Ein wirklich Hilfsbedürftiger sollte, so der Leitgedanke des Sozialdemokraten Tandler, nicht um Fürsorge betteln müssen, er hatte Anspruch darauf.
Im November 1920 übernahm er in Wien das Amt des Stadtrats für das Gesundheits- und Fürsorgewesen, auch hier erfolgte nun der Paradigmenwechsel: Sozialpolitik wurde Aufgabe der öffentlichen Hand, zuvor oblag sie dem Engagement und der Barmherzigkeit privater Wohltäter. Tandler setzte sich ein für Kinderausspeisungen durch die Zentralküche WÖK, neue Kinder- und Jugendheime etwa im Schloss Wilhelminenberg, Mütterberatungsstellen, Kinderspitäler, aber auch städtische Grünflächen und Bäder. Besonders erschüttert war er über die Zustände in der Altenpflege in Lainz, er kämpfte gegen den „Erdbelag“, Pflegebedürftige lagen auf Matratzen am Boden.
In seinem wissenschaftlichen Denken oszillierte Julius Tandler zwischen Sozialengagement und Rassenhygiene. Ausgangspunkt war für ihn die biologische „Schädigung“der Bevölkerung durch den vorangegangenen Krieg. Es gab eine große Zahl an Invaliden, chronisch Kranken, Geisteskranken, Geschlechtskranken, das zusammen mit der kriegsbedingten „Rassenmischung“bedeutete seiner Ansicht nach eine „bedenkliche Gefahr für die Tüchtigkeit eines Volkes.“Die Starken seien im Feld gefallen, für die Fortpflanzung blieben die „körperlich Miserablen“. Die Auswirkungen auf die nächste Generation seien vorhersehbar: „Eine Sintflut der Minderwertigen“. Daraus ergab sich sein sozial- und gesundheitspolitisches Engagement genauso wie seine Degenerationsfurcht, die Sorge vor der Überwucherung des Gesunden durch das Kranke.
Der nächste Schritt in Tandlers Argumentation war dann, der „Entartung des Menschengeschlechts“durch die Eugenik zu begegnen, die Fortpflanzung der „Taugli- chen“sollte begünstigt, die der „Minderwertigen“behindert werden, etwa durch freiwillige Sterilisation.
Ablehnung der Euthanasie
Radikaler sein Ton, wenn er im Gefolge deutscher Rassehygieniker formuliert: „Schließlich und endlich wird auch die Idee, dass man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewusstsein dringen. Tradition und überkommene Humanität bindet die Gesellschaft derart, dass sie sich nicht berechtigt fühlt, lebensunwertes Leben zu vernichten.“Praktisch sei das in der Gegenwart nicht durchführbar.
Seine Argumentation blieb hypothetisch. Wenige Jahre später distanzierte er sich von den Gedanken der radikalen Eugenik und lehnte die Euthanasie dezidiert ab. Er glaube nicht, dass ein Arzt je das Recht haben werde, zu töten. Das ist nach Peter Schwarz ein Indiz, dass Tandler „niemals ein Befürworter des Massenmords der Nationalsozialisten an behinderten und psychisch kranken Menschen gewesen wäre“. Nie habe sich einer der NS-Täter auf Julius Tandler berufen. Ihn zum Wegbereiter der Vernichtungspolitik umzudeuten, käme einer groben Geschichtsfälschung gleich.
In der Praxis konzentrierte sich Tandler bei der Erschaffung eines „neuen Menschen“auf die Verbesserung der Lebensund Umweltbedingungen. Er sprach oft im Gemeinderat, der Anteil radikaler rassenhygienischer Aussagen ist minimal. Wenn es welche gab, gab es keinen Einspruch aus dem Plenum. Tandler hatte den Nimbus des Wissenschaftlers. Kritik von christlichsozialer Seite gab es vor allem an der entmündigenden Zwangsbeglückung durch die linke Stadtverwaltung. Somit bleibt als Fazit eine Formulierung, die Peter Schwarz in seinem Buch mehrmals verwendet: ein Mensch mit seinem Widerspruch.