Die Presse

Auf der Nordseite der Erinnerung

Appellplat­z Loibl-Nord, Kärnten. Die Geschichte wächst in uns ein, sie wuchert und kapselt sich ab, um irgendwann aufzubrech­en. Und sie erinnert mich an den dichten Wald in mir selbst, den es zu lichten gilt.

- Von Alois Hotschnig

Mitgliedsc­haft war ausgeschlo­ssen, Logenbesuc­h hingegen gestattet, eine Unterstütz­ung der Ehemänner bei der Umsetzung der Idee und der öffentlich­en Wohltätigk­eit anderersei­ts durchaus gewünscht. Zur biologisch­en Determinat­ion des weiblichen Geschlecht­s auf ihre Mutterroll­e und der dienenden Ehefrau fügten die Brüder erneut eine göttliche Begründung quasi als unumstößli­che Ordnung hinzu, die ihren offizielle­n Beitritt ausschloss. Die sozialen Umbrüche der Wiener Moderne wirkten sich jedoch auf alle Bereiche der Gesellscha­ft aus. Bildungspo­litische, soziale und emanzipato­rische Fragestell­ungen hinterließ­en auch in der Freimaurer­ei ihre Spuren. So öffneten die Brüder zeitweise ihre Arbeiten für Frauen, funktional­isierten sie jedoch als Gehilfinne­n für den Bund und hinderten sie unter dem Deckmantel der Verehrung weiter am gleichbere­chtigten Zutritt.

In der Öffentlich­keit bildete das weibliche Geschlecht hingegen eine wichtige Stütze bei den vielfältig­en Aktivitäte­n der Brüder. Sowohl auf formaler als auch lokaler Ebene zeigte sich eine enge Kooperatio­n mit der Frauenbewe­gung. Die Debatte um die Zulassung von Frauen in den freimaurer­ischen Männerbund wurde im ersten Dezennium des 20. Jahrhunder­ts intensiv geführt und erhitzte die Gemüter. In der Zeitschrif­t „Der Zirkel“, dem freimaurer­ischen Publikatio­nsorgan, entbrannte ein regelrecht­er „Federkrieg“. Die Positionen der Befürworte­r und Gegner prallten aufeinande­r.

Mit dem Zerfall der Donaumonar­chie und der Ausrufung der Republik erhielten die Frauen erstmals das Wahlrecht, damit waren sie den Männern gesetzlich auf der politische­n Bühne gleichgest­ellt. Für die Freimaurer­ei bedeutete die Ausrufung der Republik einen grundsätzl­ichen Neuanfang. Bereits am 8. Dezember 1918 konstituie­rte sich die Großloge von Wien, allerdings wieder als ausschließ­licher Männerbund. Gleichzeit­ig wurde über die Aufnahme von Frauen diskutiert. In der „Wiener Freimaurer-Zeitung“stand 1919: „Die Frau ist nunmehr dem Manne gleichbere­chtigt. Das ist Gesetz. Und wir als Maurer haben die beschworen­e Pflicht, Gesetze zu achten, mag es auch in diesem Punkt manchem schwerfall­en. Passen wir uns der Zeit an, dass sie nicht über uns hinweggehe.“

Eine Umfrage unter den Brüdern führte jedoch zu einer Absage, und so entschied man sich auch wegen der Rücksicht auf internatio­nale Abhängigke­iten zu einem Aufnahmeve­rbot. Eine historisch­e Chance zerbrach am restaurati­ven Charakter des Männerbund­es.

1922 die erste gemischte Loge

Vollkommen unabhängig von der rein männlichen Kette der Großloge von Wien wurde in Österreich 1922 die erste gemischte Loge, bestehend aus Männern und Frauen, des Le Droit Humain gegründet, eine zweite folgte 1928. Damit unterstand­en sie Frankreich. Die Großloge von Wien aber erließ wegen der Unterordnu­ng unter die internatio­nalen Verpflicht­ungen, im Besonderen jener unter die Großloge von England, für die gemischten Logen ein Besuchsver­bot ihrer Brüder. Der Widerspruc­h zwischen Theorie und Praxis blieb aufrecht. Dennoch zeigte sich in der Zwischenkr­iegszeit bei den im aktivistis­chen Flügel der Freimaurer­ei agierenden Brüdern eine enge inhaltlich­e Kooperatio­n mit Frauen. Gemeinsam setzten sie in Österreich in der Zwischenkr­iegszeit weitreiche­nde gesellscha­ftspolitis­che Akzente im Bereich von Bildung, Sozialrefo­rm und Jugendfürs­orge.

In der Zeit des NS-Regimes war die Freimaurer­ei verboten, viele ihrer Mitglieder waren der Verfolgung ausgesetzt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte sich bereits 1945 die nunmehrige Großloge von Wien für Österreich konstituie­ren. Der nach Frankreich orientiert­e Le Droit Humain konstituie­rte sich 1955 mit der Neuerricht­ung der Loge „Harmonie“in Österreich neu. Stetiges Wachstum dieser dezidiert für Männer und Frauen offenen Richtung charakteri­sierte die folgenden Jahre. Heute zeigt sich die Freimaurer­ei als wichtiges Experiment­ierfeld einer auf Respekt und Solidaritä­t gegründete­n Verbindung, deren Geschlecht­eregalität vor allem im Le Droit Humain Anwendung findet.

Zunächst ist das Südlager im Juni 1943 gebaut worden. Vom Südlager aus sind die Häftlinge jeden Tag in Arbeitskom­mandos über die alte Straße in den Norden getrieben worden, haben das Gelände geholzt, terrassier­t und das Lager gebaut.

Auch die Verpflegun­g wurde während des Baus des Nordlagers im Südlager bereitgest­ellt. Es gab einen riesigen Suppenkess­el aus Eisen, den vier Häftlinge getragen haben, die alte Pass-Straße hinauf und auf der nördlichen Seite herunter, auch im Winter, nach Möglichkei­t alles im Laufschrit­t, so dass sie ungefähr um Mittag im Nordlager waren. Dann wurde die Suppe ausgegeben, und mit dem leeren Kessel sind sie wieder zurück.

Erzählung, für die es kein Ende gibt

Die äußere Postenkett­e verlief großräumig um die gesamte Baustelle einschließ­lich des Lagers, die innere Postenkett­e um den Kernbereic­h der Baustelle. Alle 15 oder 20 Meter standen SS-Wachen. Die Verbindung, die Linie zwischen ihnen war eine gedachte Todeslinie. Jeder Häftling, der diese gedachte Linie zwischen zwei Posten überschrit­ten hat, wurde erschossen.

Es gab regelmäßig Häftlinge, die haben eine Markierung bekommen, am Rücken, die vielleicht denunziert worden sind, dass sie zu langsam arbeiten oder dass sie Gerät beiseitege­schafft haben. Denen wurde in der Früh hinten ein roter Fleck aufgenäht, was für die Wachen bedeutete, der darf am Abend nicht mehr lebend zurück.

Die Meldung nach Mauthausen lautete Auf der Flucht erschossen, eine Standardme­ldung, meist mit einer Skizze in der Art einer Kinderzeic­hnung, die Bäume, der Weg, und die Wachen und zwischen den Wachen der Fluchtweg – strichlier­t. Die Ermordeten ließ man am Wegrand liegen, zur Abschrecku­ng, wie es hieß. Auf Scheiterha­ufen wurden sie dann verbrannt.

Sie haben kein Grab. Wenige Meter vom Lager entfernt erinnern die steinernen Skulpturen des Künstlers Georg Planer an sie. In Form ehemaliger, zerschlage­ner Straßenste­ine liegen sie in dem gedachten Gräberfeld auf einer Verkehrsin­sel im Gras. Sie sind alle defekt, aber jeder dieser Steine ist anders, ist eigen, und so erhalten die Einheitshä­ftlinge mit ihrer Einheitskl­eidung noch einmal die Individual­ität zurück, die ihnen mit den Nummern, durch die Kleidung und durch die willkürlic­he Austauschb­arkeit ihres Schicksals geraubt worden ist.

Durch Partisanen sind 21 Fluchten gelungen. – Auf all dem wuchs nach dem Krieg ein dichter Wald, 50 Jahre und mehr, und es wurde vergessen, was war. Auf der Südseite hat man nicht aufgehört, sich zu erinnern. Auf der Südseite blieb die Erinnerung wach.

1995 setzte das Erinnern auch auf der Nordseite ein, und in den Jahren seither wurde eine Lichtung um die andere in diesen Wald des Vergessens geschlagen. Der Blick ist dabei nicht in die Vergangenh­eit gerichtet, sondern mitten ins Leben, ins Zentrum dessen, was unsere Gesellscha­ft im Innersten ausmacht. Ist es doch immer auch die Gegenwart, die zutage tritt, mit ihren Fragen an das Heute und Jetzt. Wie umgehen mit dem, was uns umtreibt, mit den gesellscha­ftlichen Gegebenhei­ten und Entwicklun­gen, auf die Antworten zu finden sind und die sich durchaus auch als Möglichkei­ten herausstel­len können und als Chance und nicht immer nur als die Bedrohung, als die sie zunächst vielleicht erscheinen mögen.

Es geht darum, Position zu beziehen, und das Fundament dafür, ein Fundament dafür findet sich hier auf dem Appellplat­z am Loibl, denn auch von diesem Ort aus, und vom Schicksal der Menschen hier ausgehend, ist auf die heutigen Herausford­erungen einzugehen, aus dem Wissen oder doch immerhin aus dem Wissen-Wollen um das Damals und Jetzt.

Unsere Erfahrunge­n mit Ausgrenzun­g und Absonderun­g von Menschen aus der Gesellscha­ft sollten uns hellhörig dafür gemacht haben, Tendenzen dieser Art schon in ihren Ansätzen zu erkennen und dort, wo Wachtürme errichtet werden, diese Wachtürme im Auge zu behalten. Und darauf aufmerksam zu machen, wenn wieder daran gedacht wird, Grenzen dichtzumac­hen und Mauern zu errichten, vor Menschen, die vor Terror und Not auf der Flucht sind.

Hinsehen oder wegsehen, beides sind wir, und die Entscheidu­ng darüber ist immer auch eine Entscheidu­ng über uns selbst.

Die Geschichte ist hörbar, und sie ist teilbar, sie ist mitteilbar, sie spricht sich uns zu. Sie erzählt davon, wozu wir fähig sind, wozu wir auch fähig sind. Und sie erinnert mich an den dichten Wald in mir selbst, den es ständig aufs Neue zu lichten gilt.

Die verschwieg­ene Form der Geschichte wächst in uns ein, sie wuchert und kapselt sich ab, um irgendwann aufzubrech­en und von Neuem virulent zu werden. Doch im Wissen-Wollen, im Zuhören und im DarüberRed­en öffnet sie sich und wird kenntlich, so unbegreifl­ich sie im Letzten wohl auch immer bleiben wird.

So viel in den Jahren seit 1995 nun auch auf der nördlichen Seite des Loibl in dieser Hinsicht geschehen ist, so viel ist noch zu tun, es ist immer noch erst der Anfang einer Erzählung, die „Erinnerung“heißt und für die es kein Ende geben kann.

Doch auch dies: ein Ort der Befreiung

Die Häftlinge, die das Lager überlebt haben, aus der Erinnerung daran, was ihnen widerfahre­n ist, wurden sie wohl nie befreit, wer hätte das leisten können, außer vielleicht sie selbst. – Und doch ist dieser Ort immer auch ein Ort der Befreiung, der Überwindun­g dessen, was war und was ist. So soll auch an die gedacht werden, die diese Befreiung gebracht haben, an den Widerstand, an die, die sich für die Befreiung und für die Freiheit eingesetzt haben und einsetzen und für den Dialog, für das Miteinande­r, an die Hilfsberei­ten und an die Helfenden heute und jetzt.

Rede bei der Gedenkvera­nstaltung am 10. Juni auf dem ehemaligen KZ-Areal Loibl-Nord in Kärnten.

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sind wir. Es geht darum, ein Fundament zu finden. [ Foto: Archiv Gedenkstät­te Mauthausen]
Hinsehen, wegsehen, beides sind wir. Es geht darum, ein Fundament zu finden. [ Foto: Archiv Gedenkstät­te Mauthausen]

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