Die drei Männer in mir
Ursprung des deutschen Trauerspiels“, „Aura“, „technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks“, „Einbahnstraße“, „Passagenwerk“– wer erkennt wenigstens hinter einem dieser Stichworte den Urhebernamen Walter Benjamin? Ganze Akademikergenerationen haben sich seiner Begriffe bedient, auch wenn die Zunft ihn selbst mit seiner Habilitation in schändlicher Weise scheitern ließ.
Wenn sich nun in einer ideengeschichtlich orientierten Biografie über Walter Benjamin Sätze wie die folgenden finden, weiß man sich als Leser gut aufgehoben: „Ein Mensch ist in dem Maße Dichter, in dem er die Sprache für die Obertöne der Worte öffnet. Dichtung ist ein Echoraum, in ihr ist das Jetzt das Immer und das Hier ist die Welt.“Stößt man zudem in nahezu jedem Kapitel auf fundierte, prägnant formulierte Einsichten, dann spürt man: Diese Lektüre ist zwingend, wenn man sich neu mit Walter Benjamin auseinandersetzen will.
Ich denke dabei an Sätze wie diese in Lorenz Jägers Biografie über diesen Denker, deren Untertitel treffender nicht sein könnte – „Das Leben eines Unvollendeten“: „An entscheidenden Kreuzungspunkten seiner Arbeit unternahm Benjamin vergewissernde Rückgänge in die Sprachphilosophie.“Oder: „Der Subtext der Aura-Diskussion bei Benjamin ist eine Erotologie.“Oder ein kritischer Einwand gegen Benjamins späte Neigung, buchstäblich „alles“als eine Funktion des „Marktes“zu begreifen: „Nicht mehr mit einer Theorie hat man es zu tun, sondern mit einer gnadenlosen fixen Idee.“
Nun mangelt es nicht gerade an biografischen Arbeiten über Benjamin (die wissenschaftlich ausgerichteten sind inzwischen kaum noch übersehbar): von Momme Brodersen bis Werner Fuld, von Helmut Heißenbüttel bis Uwe Steiner und Sigrid Weigel, von persönlichen Erinnerungen zu schweigen, etwa jenen Theodor W. Adornos, Hannah Arendts oder – allen voran – Gershom Scholems („Die Geschichte einer Freundschaft“; Suhrkamp Verlag, 1975).
Es wurde sogar von Uwe-Karten Heye der Versuch unternommen, nach den „Manns“nun „Die Benjamins“als „eine deutsche Familie“porträtierend im kollektiven Gedächtnis zu positionieren. Als Biograf einschlägig durch seine Studie über Adorno ausgewiesen (2003) sowie als Sachbuchautor und Journalist hoch geschätzt, gelingt es Jäger überzeugend, Benjamins Leben und Schaffen als Durchgänge ins Ausweglose vorzuführen.
Der Ton dieser Biografie ist leise, aber eindringlich. Nichts poltert, nichts ist auf „Enthüllung“angelegt. Benjamins komplexe Freundschaften und Liebschaften werden diskret und doch unverhüllt meist im Hinblick auf Benjamins Schaffen untersucht – mit Scholem und Brecht, mit Florens Christian Rang (Lorenz Jäger ist neben Jürgen Thaler einer der wenigen Experten zum Werk dieses schillernden Intellektuellen, der über „Historische Psychologie des Karnevals“ebenso schrieb wie über das Christliche in Shakespeares Sonetten und die Reparationsfrage) und Hannah Arendt. Rang vermittelte auch die Verbindung Benjamins zu Hugo von Hofmannsthal, dessen Urteil über Benjamins Versuch über Goethes „Wahlverwandtschaften“für sich spricht: „Ich kann nur sagen, dass er (der Versuch, Anm.) in meinem inneren Leben Epoche gemacht hat.“
Etwas von jenem Ruhigen und Gefassten, das Freunden immer wieder an Benjamin auffiel – und das angesichts zunehmend extremer Lebenssituationen bis hin zum Exil und der Internierung im „Camp des travailleurs volontaires de Clos St Joseph“im Frankreich der Vichy-Regierung von deutschen Gnaden (gab es je einen schönfärberischeren Ausdruck für ein Internierungslager!) –, etwas von dieser Benjamin’schen Gelassenheit hat sich auch auf Jägers Darstellungsweise übertragen. Zugegeben, auch er weiß nicht, was sich in Benjamins schwerer Aktentasche befand. Überliefert ist dessen Wort: „Ich darf sie nicht verlieren. Das Manuskript muss gerettet werden. Es ist wichtiger als meine Person.“
Jäger vermutet, es habe sich um die ausgearbeiteten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“gehandelt, denn das umfangreiche Konvolut von Benjamins „Passagen-Werk“hatte Georges Bataille in der Biblioth`eque Nationale versteckt. Als der zunehmend unter Herzbeschwerden leidende Benjamin auf der Flucht nach einer Überdosis Morphiumtabletten in einer kleinen Pension im spanischen Pyrenäendorf Portbou starb, fand sich seine Ledertasche, deren Existenz im Sterberegister Eingang fand, freilich mit der Bemerkung: „unos papeles mas de contenido desconocido – mit Papieren unbekannten Inhalts“. Niemand kennt ihren Verbleib.
Benjamin und die Frauen, Ausdruck seines unmöglichen Liebesverlangens: die wenig geliebte Gattin, Dora Kellner, die Kommunistin aus Passion, seine „bolschewistische Lettin aus Riga“, Asja Lacis, zuletzt die niederländische Malerin Anna Marie Blaupot ten Cate – sein Resümee und seine Anweisung für künftige Biografen, an die sich Jäger zumindest ansatzweise gehalten hat: „Ich habe drei verschiedene Frauen im Leben kennengelernt und drei verschiedene Männer in mir. Meine Lebensgeschichte schreiben hieße Aufbau und Verfall dieser drei Männer darstellen und den Kompromiss zwischen ihnen – man könnte auch sagen: das Triumvirat, das mein Leben jetzt darstellt.“
Unberücksichtigt bleiben Liebeleien, wohl auch jene mit der oft kränkelnden Margarete Karplus, Adornos späterer Frau, und – Prostituierte, denen lange Abschnitte in seinem Werk gelten, zumal in den Passagen, in denen sich der Flaneur, zunächst vom „Gefühlswissen“gelenkt, dann vom Drang, den Markt, den Konsum zu beobachten, aufhält. Benjamin wird im Flaneur zuletzt den „in das Reich des Konsumenten ausgeschickten Kundschafter des Kapitalisten“sehen, wozu natürlich auch der Lustkonsum gehört.
Durch Jäger lernen wir aber auch einen Benjamin genauer kennen, der sich auf die Sprache der Hand, auf Gestik und Mimik verstand, überhaupt als einen Analytiker der Physiognomie seiner Zeit und ihres Vorläufers, des 19. Jahrhunderts. In 18 Kapiteln breitet Jäger den ganzen Reichtum dieses aus wohlhabendem Hause stammenden Intellektuellen aus, ohne dass er sich in Details verlöre. Als gemeinsamen Nenner der divergierenden Interessen Benjamins identifiziert Jäger die Frage nach der Produktionsästhetik. Bei Paul Valery´ fand Benjamin dabei Wahlverwandtes; denn er sah in der „Konstruktion“die neue Form der „Inspiration“. Was aber, so hätte Jäger durchaus weiter fragen können, inspiriert die Konstruktion?
Es ist wahr, vertieft man sich einmal in Walter Benjamin, dann verblasst seine Familie – trotz seiner bedeutsamen Impressionen „Berliner Kindheit um 1900“, welche die seine war. Assimiliertes jüdisches Bürgertum aus der Villengegend BerlinGrunewald. Alle Benjamins wollte Uwe- Karsten Heye vor diesem Hintergrund ins Bild rücken: den Kaufmann Emil Benjamin, den Vater (auch wenn Jäger weitaus mehr aus dessen Sammlerleidenschaft zu entwickeln versteht, die für Walter Benjamins Auseinandersetzung mit dem Profil des Sammlers entscheidend war!), Mutter Pauline Schönflies, die Tochter von deren Schwester, Walters Cousine Gertrud Chodziesner, die unter dem Künstlernamen Gertrud Kolmar (1894 bis 1943) zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts werden sollte und die dann in Auswitz umkam.
Dann die im Berliner Arbeiterbezirk Wedding sozial engagierte Schwester Dora Benjamin, bei der Walter im Pariser Exil zeitweise unterkommen sollte, Bruder Georg Benjamin, Kinderarzt, aktiv beteiligt am Aufbau eines Proletarischen Gesundheitsdienstes in den ersten Jahren der Weimarer Republik, Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokraten, später der KPD, ab 1933 für seine politische Überzeugung verfolgt, inhaftiert, bis er 1942 im KZ Mauthausen umkam.
Und dann dessen Frau, Hilde Benjamin (1902 bis 1989) , die „blutige Hilde“, die „rote Guillotine“, Rechtsanwältin, nach 1933 mit Berufsverbot belegt, ab 1946 Funktionärin in der SED, ab 1949 vier Jahre lang Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR, schließlich Volkskammerabgeordnete, Mitglied des ZKs der SED, schließlich Justizministerin der DDR. Gefürchtet war sie als Volksrichterin bei zahlreichen Schauprozessen in den Fünfzigerjahren.
Dass sie Blut an den Händen hatte, steht außer Frage. Gleichfalls trifft aber zu, dass Hilde Benjamin Entscheidendes bei der durchaus fortschrittlichen Familiengesetzgebung in der DDR bewirkt hat, wozu die Gleichstellung nichtehelicher Kinder ebenso gehörte wie die Reform des Scheidungsrechts und die Förderung der Berufstätigkeit von Frauen.
Heye hätte seine Familienbiografie der Benjamins (erschienen 2014 bei Aufbau) auch „Gerechtigkeit für Hilde“nennen können. Zuweilen gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, als habe er im Sinn, sie völlig reinzuwaschen, was er dann wieder meist halbherzig relativiert. Nein, in ihrer Funktion hat Hilde Benjamin unweigerlich Schuld auf sich geladen, schwere Schuld, auch wenn die DDR sie mit Ehrungen überhäufte.
Neben der einflussreichen Margot Honecker (1927 bis 2016) war Hilde Benjamin die einzige Frau von Rang in den obersten Gremien im staatssozialistischen Teil Deutschlands. Richtig freilich ist auch, dass in der DDR die Strafverfolgung von nationalsozialistischen Verbrechern konsequenter betrieben wurde als im Vergleichszeitraum in der Bundesrepublik Deutschland. Das wiederum war zweifellos auch ein Verdienst Hilde Benjamins. Inwieweit hierbei Rache für ihren im Dritten Reich verfolgten Mann eine Rolle gespielt haben könnte, sei dahingestellt.
Was Heye zu erwähnen vergisst: Trotz dieser Maßnahmen befand ein von Margot Honecker 1980 in Auftrag gegebener Bericht über das Verhalten Jugendlicher in der DDR, dass unter ihnen faschistoide Tendenzen so weit verbreitet waren, dass die für die Parteiführung mehr als peinlichen Ergebnisse dieser Untersuchung zu DDR-Zeiten nicht publik gemacht werden konnten. Übrigens blieb Hilde Benjamin das Ende der DDR, das aus ihrer Sicht der Dinge einer untilgbaren Schmach gleichgekommen wäre, erspart. Sie starb im April 1989.
Ja, eine verzweifelt deutsche Familie ist sie schon gewesen, die Familie Benjamin, tragisch in vieler, wenn nicht in jeder Hinsicht, verfilmenswert gewiss, überstrahlt freilich von der schieren intellektuellen Brillanz Walter Benjamins und seinem ungebrochen anregenden, unvergleichlich vielgestaltigen Werk.
Lorenz Jäger Walter Benjamin Das Leben eines Unvollendeten. 400 S., geb., Abb., € 27,80 (Rowohlt Berlin Verlag, Berlin)
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