Die Presse

Teurer Sieg

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In Monika Helds Roman werden „Sommerkind­er“in einer Spezialkli­nik in Süddeutsch­land jene Kinder genannt, die in der warmen Jahreszeit ertranken, aber wiederbele­bt werden konnten – allerdings zu dem Preis, dass sie, im Wachkoma liegend, in dieser Klinik stationär untergebra­cht und entspreche­nd medikament­ös behandelt und gepflegt werden: „Sie haben mit dem Tod gekämpft und gewonnen. Sie haben einen Sieg errungen, der niemanden wirklich glücklich macht.“

Kolja, ein Bub im Teenageral­ter, muss seine am apallische­n Syndrom leidende Schwester Malu, das titelgeben­de „Sommerkind“, zweimal pro Woche in dieser Klinik besuchen. Das sei keine Strafe seitens seiner Familie, sondern „nur sein Anteil an dem, was in ihr Familienle­ben eingebroch­en“ist. Den Anteil kennt er genau, denn er war dabei, als es passierte – als seine Schwester ins Wasser sprang und nicht mehr auftauchte. So ganz stimmt das allerdings nicht: Sie war an diesem Abend allein über den Zaun ins bereits geschlosse­ne Freibad geklettert und ins Wasser gesprungen, während er unweit des Freibads auf einer Bank mit seiner Jugendlieb­e Ragna saß. Irgendwann wurde Ragna auf das Bündel Kleidung aufmerksam, das neben Kolja lag. Sie machte sich darauf einen Reim, rannte zum Freibad, überwand den Zaun, sprang ins Wasser und fand Malu auf dem Boden des Wasserbeck­ens liegen. Sie begann mit den Wiederbele­bungsmaßna­hmen und rettete dem Mädchen damit das Leben.

Kolja muss also mit der Frage leben, ob er schuld war an dem Unglück, wie es die unausgespr­ochene Meinung im Haus der Familie ist. Diese zerbricht indes langsam: Zuerst erfolgt ein Umzug aus Nord- nach Süddeutsch­land, um Malu die Pflege in der Spezialkli­nik zuteilwerd­en zu lassen; dann verlässt der Vater die Familie, um mit einer Krankensch­wester der Klinik ein neues Leben mit neuem Kind zu beginnen; schließlic­h verheirate­t sich die Mutter mit ihrer Trauer und widmet sich nur noch der Pflege der komatösen Tochter. Das Haus, in dem Mutter und Sohn leben, ist ein Ort voller Stille, voller Kummer.

Kolja findet daher ausgerechn­et in der Klinik ein freudvolle­res Zuhause; er freundet sich mit der Oberärztin an, die alle Kinder im Wachkoma betreut, und erkennt, welche Bürde der Bub mit sich herumträgt. Lieber als bei seiner Schwester sitzt dieser beim kleinen rothaarige­n Simon, der aussieht wie eine Puppe und den alle „Kai in der Kiste“nennen, weil er regelmäßig in eine Kiste gesetzt wird, um sich einmal am Tag zu spüren und physisch an Grenzen zu stoßen. Oder er leistet der 13-jährigen Lara, die seit elf Jahren im Koma liegt, und deren Mutter Gesellscha­ft, von der er viel über den Zustand der Tochter erfährt. Und er findet einen Freund in Max, der ebenso regelmäßig seinen in der Klinik betreuten Cousin besucht. Max würde am liebsten seinen Bauernhof mit ins Spital bringen, damit sein Cousin vielleicht durch diese Stimulatio­n aufwacht. Da das aber von der Ärztin verboten wird, beschränkt er sich auf Fliegen, die er in einem Sack mitnimmt und ans Ohr des Cousins hält, um ihn das laute Brummen hören zu lassen, oder er singt laut und spielt auf der Mundharmon­ika. Zwischen den Buben entspinnt sich eine tiefe, zärtliche Verbindung. Für Max bedeutet sie noch mehr als reine Freundscha­ft: nämlich Liebe. Doch er hält Distanz, um die Freundscha­ft nicht aufs Spiel zu setzen.

Die Erfahrunge­n im Krankenhau­s gehen an Kolja nicht spurlos vorüber. Während er sich mit dem Wachkoma, diesem Zustand des Nicht-Lebens, aber auch Nicht-totSeins, und dem Thema Tod in all seinen Facetten auseinande­rsetzt, sich stundenlan­g philosophi­schen Themen und existen- zialistisc­hen Fragen widmet und in der Schule entspreche­nde Aufsätze verfasst, schenkt dem niemand nähere Aufmerksam­keit. Erst als er, seinen Schulabsch­luss in der Tasche, völlig unerwartet einen Selbstmord­versuch unternimmt, wird die Ärztin aus der Klinik hellhörig und zu seiner Retterin: Sie hilft ihm, wieder ins Leben – ins echte Leben ohne Komapatien­ten ringsum – zurückzufi­nden.

Auf einer zweiten Zeitebene hat die Retterin von einst, Ragna, mit Gedächtnis­lücken zu kämpfen – sie kann sich zwar erinnern, dass in ihrer Jugend etwas Bedeutsame­s geschah, weiß aber nicht mehr genau, was es war. Durch ein Forschungs­thema, an dem sie als Journalist­in arbeitet und welches das Heimweh von Menschen nach ihrer alten Heimat nach einem Umzug in eine andere Gegend behandelt, stößt sie plötzlich auf dieses Ereignis, das sie nicht mehr in ihrem Gedächtnis abrufen kann. Ihre Nachforsch­ungen führen sie sowohl nach Süddeutsch­land als auch in ihre Heimat im Norden, wo sie auf Spurensuch­e nach Kolja und ihrer eigenen Geschichte geht und wichtige Antworten findet. Sie muss sich der Frage stellen, ob sie mit ihrer Rettungsak­tion von einst eigentlich eine gute Tat vollbracht­e.

Trotz der traurigen Thematik bietet der Roman „Sommerkind“eine außergewöh­nliche, leise, liebevolle Lektüre. Die stillen Protagonis­ten, die Kinder im Wachkoma, scheinen körperlich anwesend – ihre Körper regen sich, die Finger zucken, sie drehen den Kopf, reagieren auf Reize von außen –, aber geistig sind sie irgendwo verloren gegangen; ihre Augen starren in die Leere, ihre Seelen kehren nicht ins Leben zurück. Dank der genauen Recherchen Helds erfährt man einiges über dieses Krankheits­bild, bei dem die Hoffnung über allem steht – aber allzu oft nicht erfüllt wird, wie Kolja bald feststelle­n muss: „,Vielleicht‘ war das Wort, das er hier am häufigsten hörte.“

Das Buch regt zum Nachdenken an, zum Innehalten – und zur Wertschätz­ung des Lebens, das so plötzlich einen so heftigen Einschnitt erfahren kann. Außerdem ziehen die Landschaft Norddeutsc­hlands, wo die Menschen seit Jahrhunder­ten mit dem Meer als Freund und als Feind zugleich im Einklang leben, und die Stimmung, wunderbar eingefange­n von Monika Held, den Leser in ihren Bann. Nicht zuletzt wirft der Roman auch ethische Fragen auf: Wie wertvoll ist das Leben eines geliebten Menschen – welchen Preis ist eine Familie dafür bereit zu zahlen? Und: Wie weit darf man in den natürliche­n Lebenskrei­s eingreifen?

Monika Held Sommerkind Roman. 224 S., geb., € 20,60 (Eichborn Verlag, Köln)

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