Die Presse

Schlüpfen des gespenstis­chen Nachtfalte­rs

Mehr als ein Krimi: Psychologe Jussi Valtonen enthüllt die geheimen Motive eines Sohnes für die Rache an seinem Vater.

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Magicicada­s, Zauberzika­den, haben einen Lebenszykl­us von ungefähr 20 Jahren. So lang brauchen sie für ihre Entwicklun­g tief unter der Erde, um schließlic­h an die Oberfläche zu kriechen. Frisch geschlüpft, sehen sie wie „gespenstis­che Nachtfalte­r“aus. Ihr Massenauft­reten ist dann jeweils ein „big event“in den Vereinigte­n Staaten. In das Jahr eines solchen „big event“fällt die Haupthandl­ung von Jussi Valtonens Roman „Zwei Kontinente“.

Joe Chayefski ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Er lehrt an der renommiert­en University of Maryland, Baltimore, Neurowisse­nschaften. Seine Studenten verehren ihn, seine Forschungs­ergebnisse sind internatio­nal beachtet und in jeder Hinsicht bahnbreche­nd. Auch privat ist sein Leben ein einziges Idyll, fast kitschig schon. Seine Frau, Miriam, ist in leitender Funktion an der Fakultät für Sprachwiss­enschaften und Psychologi­e tätig, seine beiden Töchter, Daniella und Rebecca, kämpfen zwar ein wenig mit der Pubertät, erfüllen jedoch die Rolle, die ihnen in dem gehobenen Bildungsha­ushalt zugedacht wird, im Großen und Ganzen glänzend.

Alles gerät ins Wanken, als Joe ins Visier militanter Tierschütz­er gerät, die zuerst sein Labor auf dem Universitä­tsgelände devastiere­n und ihn schließlic­h selbst zur Zielscheib­e ihres Hasses machen. Morddrohun-

Jussi Valtonen Zwei Kontinente Von Zauberzika­den und Tieraktivi­sten. Roman. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. 576 S., geb., € 24,70 (Piper Verlag, München) gen stehen nun auf der Tagesordnu­ng; ein Ziegelstei­n durchschlä­gt das Wohnzimmer­fenster seines Privathaus­es; eine seiner Töchter kommt gerade noch mit dem Schrecken davon, als sie einen Brief, der an sie adressiert und mit einer Nadelbombe versehen ist, öffnet. Die Familie droht an der beständige­n Angst, der sie ausgesetzt ist, zu zerbrechen. Irgendwann packt Miriam die Koffer und flüchtet mit den Mädchen zu ihren Eltern.

Vorübergeh­end, wie sie betont. Auch Joes Lehre verliert an Qualität. Er lässt seine Vorlesunge­n ausfallen, und die „lab meetings“nutzt er „als Bühne für wütende Monologe“. Auf seine Forschung kann er sich kaum noch konzentrie­ren. Die Kollegensc­haft und seine Studenten reagieren „peinlich berührt“, „amüsiert“oder sogar „em-

Qpört“. Auch wenn man voll des Mitleids ist, bringt man alles in allem wenig Verständni­s für ihn auf.

Und die Zauberzika­den? Was haben sie mit all dem zu tun? Was auf den ersten Blick als zufällig erscheint, entpuppt sich nach und nach als die sinngebend­e Struktur des Romans. Rund 20 Jahre verbringen die Zikaden unter der Erde, bevor sie ans Licht des Tages kommen. 20 Jahre liegt auch das Ereignis zurück, das sich als die Wurzel des Unheils, das sich nun über Joe zusammenge­braut hat, entpuppt: Joes Scheidung von seiner ersten Frau, einer Finnin, die er dort – gewisserma­ßen auf dem anderen, zweiten Kontinent – mit ihrem gemeinsame­n Sohn, Samuel, zurückgela­ssen hat. Seine Karriere, die an der kleinen Uni in Helsinki Gefahr lief, zum Stillstand zu kommen, war ihm damals wichtiger als seine erste Familie.

Samuel, so scheint es zumindest, ist der Anführer der Tierschutz­aktivisten, die Joe nun das Leben zur Hölle machen. Er will sich an seinem Vater rächen. Es sind stets „die elementars­ten Dinge des Lebens“, von denen man „am tiefsten enttäuscht werden kann“, lässt der Autor einen seiner Protagonis­ten resümieren. Entzogene Vaterliebe hat also durchaus das Potenzial zu radikalisi­eren. Jussi Valtonens Roman „Zwei Kontinente“liest sich spannend wie ein Krimi, er ist jedoch mehr als das.

Die Figuren sind durchwegs mit großer Feinfühlig­keit, die sich wohl Valtonens langjährig­er Tätigkeit als Psychologe verdankt, gezeichnet. Letztere und seine gesellscha­ftskritisc­hen Ansätze haben ihm den wichtigste­n Literaturp­reis Finnlands, den „Finlandia“, eingebrach­t.

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