Die Presse

Die Kunst des Wartenlass­ens

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KQennen wir das Gefühl nicht alle? Wir sitzen im Flugzeug, angeschnal­lt und über die Sicherheit­sbedingung­en an Bord informiert. Es kann losgehen. Aber es fehlt noch ein Passagier. Und der kommt nicht, kommt nicht.

So geht es jenem Mann, der an einem sonnigen Septembern­achmittag von einem Staatsbegr­äbnis kommt. Er hat dort vor den bedeutends­ten Würdenträg­ern der Welt eine Rede gehalten und sein Land vertreten, souverän wie immer. Nun ist er zurück an Bord und krempelt die Ärmel seines weißen Hemdes hoch. Vor ihm stapeln sich die Aktenberge. Elf Stunden Flugzeit, da geht sich einiges an Arbeit aus. Sofern man damit loslegen könnte. Aber das gelingt nicht. Sein Mitreisend­er hat es nicht eilig. Er ist dem Toten nahegestan­den, also war es eine Geste des Respekts, die Beerdigung zu besuchen. Und weil er eine hochgestel­lte Persönlich­keit ist, hat ihm sein Freund angeboten, ihn in seiner Privatmasc­hine mitzunehme­n.

Und nun das: Der großzügig in die bequeme Boeing eingeladen­e Expolitike­r verzögert den Start, weil er am Boden mit einigen Herrschaft­en plaudert. Er hat sich inzwischen so gut im Leben als Rentner eingericht­et, dass ihm Eile fremd ist. Regelmäßig­e Vorträge, diplomatis­che und karitative Missionen, die Runden am Golfplatz: alles nach seinem Tempo.

Was den Passagier, der längst abheben möchte, ungeduldig macht. Er tritt auf die Gangway und winkt: „Es geht los.“Doch das bringt nichts. Also nochmals: „He, mach weiter.“Und wieder: nichts. Nun beginnt er, etwas ärgerlich zu werden. Wenn die Maschine an diesem 30. September 2016 pünktlich von Tel Aviv abhebt, würde er es schaffen, vor Mitternach­t daheim zu sein. Das ist ihm wichtig, das hat er seiner Frau und den beiden Töchtern versproche­n. Also versucht er es ein drittes Mal: „Los jetzt, ich muss nach Hause.“Hat sich sein Ton verschärft? Diesmal reagiert der Gemahnte, steigt die Treppen nach oben und klopft seinem Freund auf die Schulter. „Da bin ich.“Versöhnlic­hes Lachen.

Wer darf den höchsten Mann des Staates warten lassen? Bestenfall­s einer, der diesen Job auch schon einmal innehatte. Und vielleicht ist es eine Genugtuung: Man wartet auf mich. Da steht auch mein Nachfolger still.

Wer ließ wen warten? Was erregte bei dem Begräbnis besondere Aufmerksam­keit?

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