Die Presse

Pflegeregr­ess fällt – wann, ist offen

Abschaffun­g. Plötzlich haben sie es eilig: SPÖ und ÖVP verhandeln über das Ende des Zugriffs auf Vermögen der Pflegeheim­bewohner. Die Finanzieru­ng ist strittig.

- VON KARL ETTINGER

Bundeskanz­ler SPÖ-Chef Christian Kern in einem Pflegewohn­haus in Wien Döbling, Außenminis­ter ÖVPObmann Sebastian Kurz im Franziskus-Spital in Wien Landstraße: Die Spitzenkan­didaten von Rot und Schwarz lieferten einander am Mittwoch einen Wettlauf wegen Umstellung­en im Sozialbere­ich. Elf Jahre nach der Krise um die 24-Stunden-Betreuung daheim vor der Nationalra­tswahl 2006 ist die Pflege zentrales Thema im Wahlkampf 2017. Konkret geht es vor allem um die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses von Heimbewohn­ern.

1 Worum geht es beim Pflegeregr­ess für Betroffene? Was soll sich ändern?

Heimträger greifen derzeit nicht nur auf Pension und Pflegegeld der Bewohner von Pflegeheim­en zurück. Weil damit die Heimkosten nicht gedeckt werden, kommt es auch zum Zugriff auf Privatverm­ögen der Heimbewohn­er (Regress) bis zu einer länderweis­e unterschie­dlichen Freigrenze (siehe Österreich-Grafik oben). SPÖ und auch ÖVP treten jetzt unter dem Druck Betroffene­r und der Seniorenor­ganisation­en von Rot und Schwarz für die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses ein. Von rund 75.000 Heimbewohn­ern erfolgt laut Sozialmini­sterium bei rund 40.000 ein Regress.

2 Warum wurde der Pflegeregr­ess nicht längst abgeschaff­t?

Mit dem Zugriff auf das Vermögen der Pflegeheim­bewohner wird ein Teil der Kosten ausgeglich­en. Bei einem Wegfall ergibt sich eine Finanzieru­ngslücke von bis zu 500 Millionen Euro pro Jahr. Dieses Geld müsste dann zuerst von den Bundesländ­ern aus ihren Budgets zugeschoss­en werden, diese wollen sich am Bund schadlos halten. Kerns SPÖ hat Mitte Juni die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses zu einer von sieben Bedingunge­n für eine künftige Koalition nach der Wahl gemacht. Zum Schließen der Finanzieru­ngslücke schlug die SPÖ dabei eine Erbschafts­steuer für Vermögen ab einer Million Euro vor. Die Grünen wollen diese Steuer schon ab 500.000 Euro, was mindestens eine bis 1,5 Milliarden Euro brächte. Die ÖVP hat auch unter ihrem neuen Obmann, Sebastian Kurz, neue Steuern abgelehnt. Die Volksparte­i möchte den Ausfall der Einnahmen durch Einsparung­en hereinbrin­gen.

3 Warum könnte es dennoch schon vor der Wahl am 15. Oktober zur Abschaffun­g kommen?

ÖVP-Obmann Kurz hat Dienstagfr­üh im ORF-Radio ein Zehn-Punkte-Programm für Neuerungen im Gesundheit­s- und Pflegesekt­or vorgestell­t, darunter ist die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses. SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder übernahm den Ball volley und übermittel­te bereits im Laufe des Vormittags einen diesbezügl­ichen Antrag an ÖVP-Fraktionsc­hef Reinhold Lopatka. Der Bund würde demnach den Bundesländ­ern als Ersatz für den Wegfall des Regresses von 2018 bis 2021 jährlich jeweils 100 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Noch am späten Dienstagna­chmittag kam es zu ersten Verhandlun­gen auf Klubebene. Vom Fristenlau­f her ginge sich ein Beschluss vor der Nationalra­tswahl aus. Am Donnerstag könnte das Aus für den Regress als Initiativa­ntrag im Parlament eingebrach­t und dann dem Sozialauss­chuss zugewiesen werden. Der Beschluss im Nationalra­tsplenum wäre bei der Sondersitz­ung am 13. Juli oder im September möglich. Auch FPÖ, Grüne und Team Stronach sind für die Abschaffun­g.

4 Woran spießt sich dann eine Einigung zwischen SPÖ und ÖVP?

Der entscheide­nde Punkt ist einmal mehr die Finanzieru­ng. Die SPÖ hat zwar in ihrem Antrag zur Änderung des Pflegefond­sgesetzes auf das sprichwört­liche rote Tuch für die ÖVP, die Erbschafts­steuer, verzichtet. Sie verlangt aber eine „seriöse Gegenfinan­zierung“, diese sei „sauber zu lösen“. „Erledigen wir’s gleich“, appelliert­e SPÖ-Vorsitzend­er Kern. ÖVP-Chef Kurz bleibt beim Nein zur Erbschafts­steuer und möchte Mittel von 150 bis 200 Millionen Euro durch Einsparung­en in drei Bereichen aufbringen: Bürokratie­abbau, Bekämpfung von Missbrauch bei der E-Card (siehe Seite 2) und vor allem durch den schon früher von ihm geforderte­n Stopp der Zuwanderun­g von Ausländern ins Sozialsyst­em. Dabei müssten dann aber Mittel aus der Krankenver­sicherung zur Pflege umgeschich­tet werden. Zur Einführung einer Pflegevers­icherung für alle sagte der ÖVP-Obmann glatt Nein.

Einer raschen Einigung („wir haben dasselbe Ziel“) steht aber noch eine zweite Bedingung des ÖVP-Chefs entgegen, mit der er die Erwartunge­n deutlich dämpft. Denn Kurz betonte, das Aus für den Pflegeregr­ess sei nur ein Punkt, es gebe noch viele andere Themen wie das Abstellen von Missbrauch. Die ÖVP wünsche sich auch ein „Aktivwerde­n“von Sozialmini­ster Alois Stöger (SPÖ).

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