Die Presse

Der gute Mensch und das Schwein

Film. Die Netflix-Eigenprodu­ktion „Okja“ist ab heute online verfügbar: Das überspitzt­e, linkspopul­istische Hybrid aus Action, Fantasy und Satire ist großes Unterhaltu­ngskino – nur eben nicht im Kino. Weshalb der Film für Kontrovers­en sorgte.

- VON ANDREY ARNOLD

Im Netflix-Film „Okja2 kämpft ein Mädchen gegen ein großes Unternehme­n, das seinen \esten Freund, ein Tier, entführen will.

Wer in letzter Zeit die Liste der anstehende­n Netflix-Neuerschei­nungen durchgeblä­ttert hat, ist vielleicht über einen Titel gestolpert, der auf wunderlich­e Weise aus der Reihe tanzt. Schon seinem Kurzinhalt haftet etwas Apartes an: „Ein sanftes riesiges Tier und das Mädchen, das es großgezoge­n hat, sind im Kreuzfeuer zwischen Tierschutz, Profitgier und Wissenscha­ftsethik gefangen.“Das zugehörige Promo-Bild reiht Hauptfigur­en auf: Ein koreanisch­es Mädchen wird flankiert von Tilda Swinton, Paul Dano und Jake Gyllenhaal. Im Hintergrun­d erkennt man das „sanfte riesige Tier“– es erinnert an Fuchur, den Glücksdrac­hen aus der „Unendliche­n Geschichte“. Was soll man sich angesichts dessen erwarten? Ein Fantasy-Abenteuer? Einen Jugendfilm? Eine satirische Öko-Parabel? Ein Drama? Eine Groteske? Die Antwort lautet: Alles auf einmal. Und noch ein bisschen mehr.

Der Film, um den es geht, heißt „Okja“– wie das Tier im Hintergrun­d. Es ist eine jener Netflix-Eigenprodu­ktionen, die dem Streaming-Riesen zu cinephilem Prestige verhelfen sollen. Die Qualitäts-Offensive begann 2015 mit dem Kindersold­aten-Drama „Beasts of No Nation“. Inzwischen hat es die Firma auch nach Cannes geschafft, wo heuer zwei Netflix-Beiträge im Wettbewerb liefen: Noah Baumbachs Familienge­schichte „The Meyerowitz Stories“– und „Okja“. Nicht ohne Kontrovers­en. Denn das obligatori­sche Zeitfenste­r zwischen Kino- und Online-Start beträgt in Frankreich drei Jahre: Inakzeptab­el für Netflix’ Geschäftsm­odell. Daher war kein Kinostart für die beiden Filme geplant. Der französisc­he Kinoverban­d FNCF beschwerte sich beim Festival, künftig müssen CannesAnwä­rter die Leinwand-Präsenz ihrer Wettbewerb­sfilme garantiere­n.

Exzentrisc­her als Tim Burton

„Okja“selbst wurde von der Kritik durchaus positiv aufgenomme­n – und tatsächlic­h ist es die vielleicht interessan­teste Netflix-Spielfilmp­roduktion bisher. Das liegt auch am Regisseur: Bong Joon-ho, ein studierter Soziologe, gehört zu den spannendst­en Vertretern der „südkoreani­schen Welle“, die Anfang der Nullerjahr­e über die Festivalwe­lt hereinbrac­h. Sein Krimi „Memories of Murder“ etablierte ihn als brillanten Stilisten und beizenden Sozialkrit­iker. 2013 wagte Bong seine erste internatio­nale Koprodukti­on, die Comicverfi­lmung „Snowpierce­r“. Ein Erfolg, den der Verleih allerdings nur gekürzt in die Kinos bringen wollte – weil er zu „intelligen­t“sei für ein Massenpubl­ikum. Letztlich konnte Bong seine Vision durchsetze­n. Doch die Erfahrung trug bestimmt zur Entscheidu­ng bei, mit Netflix zusammenzu­arbeiten – stellte ihm der Streamingd­ienst doch uneingesch­ränkte kreative Freiheit in Aussicht.

„Okja“ist in erster Linie großes Unterhaltu­ngskino – aber seine Exzentrizi­tät stellt jene von Hollywood-Wunderling­en wie Tim Burton oder Wes Anderson locker in den Schatten. Der Film beginnt mit einem Image-Event des Nahrungsmi­ttelkonzer­ns Mirando. Chefin Lucy (Tilda Swinton ganz in Weiß) will den kapitalist­ischen Moloch in ein sympathisc­hes Bio-Unternehme­n verwandeln. Sie setzt ihre Hoffnungen in ein neugezücht­etes „Superschwe­in“: Es soll den Welthunger ausmerzen – und obendrein „scheiß-gut schmecken“! Für die Produktprä­sentation wurde per Wettbewerb ein Prachtexem­plar ausgewählt, das in Korea bei einem alten Bauern lebt – doch dessen Enkelin Mija (Ahn Seo-hyun) will Okja nicht so einfach gehen lassen.

Anime-artig und zugleich animalisch

Es folgt eine Achterbahn­fahrt, die zuweilen völlig abdreht – aber nie langweilig wird. Schon die titelgeben­de Kreatur fasziniert. Okja ist eine Kreuzung aus Dackel, Nilpferd und Riesenschw­ein, mit dem knuffigen Charme eines Anime-Zauberwese­ns. Doch seine animalisch­e Seite wird nicht ausgeblend­et: Okjas Bemmerl-Salven sind beachtlich. Als es nach New York verschifft wird, überfallen Tierschütz­er unter der Leitung des sanftmütig­en Jay (Dano) den Transport – eine sensatione­lle, von treibendem BalkanPop angepeitsc­hte Actionsequ­enz. Die Aktivisten wollen aufdecken, dass hinter der freundlich­en Mirando-Fassade weiterhin Abgründe klaffen. Okja soll ihnen dabei helfen.

Seinem Hang zum Karikature­sken gibt sich Bong hemmungslo­s hin. Er gehört selbst einer seltenen Gattung an: Er ist ein Blockbuste­r-Linkspopul­ist, der in „Snowpierce­r“vom Ende des Kapitalism­us träumt und in „Okja“die militante „Animal Liberation Front“zu schrullig-netten Supergutme­nschen stilisiert. Subtil ist an seiner jüngsten Arbeit gar nichts. Jake Gyllenhaal hat noch nie so rabiat outriert wie als TV-Zoologe im Dienste Mirandos. Und wenn Swinton plötzlich als Lucys Zwillingss­chwester auftritt (das wahre Gesicht der Firma), gerät der Film endgültig zum Cartoon. Doch dieser bleibt stets mitreißend und unberechen­bar, springt abrupt von Slapstick-Humor zu den Schrecken der Massentier­haltung.

Wirklich schade, dass man dieses Unikat voraussich­tlich nicht auf der großen Leinwand bestaunen wird dürfen – weder hierzuland­e noch in Südkorea, wo große Kinoketten den Film boykottier­en. Vielleicht bringt das Netflix ja dazu, seine Auswertung­s-Strategie zu überdenken.

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 ?? [ Netflix] ?? Okja, eine neugezücht­ete Kreatur, soll die Hungrigen der Welt nähren – und einem Konzern bei der Image-Reparatur helfen. Tierschütz­er stellen sich in den Weg.
[ Netflix] Okja, eine neugezücht­ete Kreatur, soll die Hungrigen der Welt nähren – und einem Konzern bei der Image-Reparatur helfen. Tierschütz­er stellen sich in den Weg.

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