Die Presse

Leitartike­l von Josef Urschitz

Der Pflegeregr­ess ist ungerecht und gehört umgehend abgeschaff­t. Aber nicht als Vorwahlzuc­kerl, sondern seriös finanziert durch eine Pflegevers­icherung.

- E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

Der Pflegeregr­ess, wie er in Österreich praktizier­t wird, ist in hohem Grad ungerecht und sendet ein ausgesproc­hen kontraprod­uktives gesellscha­ftliches Signal aus. Ungerecht deshalb, weil es vom Wohnort innerhalb Österreich­s abhängt, ob im Falle der Pflegebedü­rftigkeit die Allgemeinh­eit einspringt oder ob auf das Vermögen des „Pfleglings“und dessen Angehörige­n zugegriffe­n wird. Das hat damit zu tun, dass das Gesundheit­swesen dort angesiedel­t ist, wo es definitiv nicht hingehört. Nämlich bei den Ländern.

Und kontraprod­uktiv, weil es signalisie­rt: Wenn du nach dem biblischen Motto „Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der Herr ernährt sie doch“lebst oder dein Geld mit beiden Händen beim Fenster hinauswirf­st, werden wir dich durchtrage­n. Wenn du dich anstrengst und es beispielsw­eise zu einem Häuschen oder einem kleinen Notgrosche­n bringst, dann werden wir dich zur Kasse bitten. Das ist nicht das Motivation­smodell, auf dessen Basis mitteleuro­päische Gesellscha­ften funktionie­ren.

Es ist also gut, dass sich jetzt eine Art Allparteie­nkoalition zu dessen Abschaffun­g gefunden hat. Vor allem aber, dass die Regierungs­koalition diese verunglück­te Konstrukti­on auf ihre To-do-Liste genommen hat. Man muss allerdings dringend davor warnen, diese Liste zu schnell abzuarbeit­en. Vorwahlzei­ten, das wissen wir spätestens seit der knapp vor den jüngsten Nationalra­tswahlen beschlosse­nen Ausgabenor­gie, sind nämlich Zeiten „fokussiert­er Unintellig­enz“, wie das der Wiener Bürgermeis­ter einmal ausgedrück­t hat. Da überlagert der Wunsch, Wählerköde­r auszulegen, jede wirtschaft­liche Vernunft.

Das muss nicht sein. Wenn tatsächlic­h alle für die nächste Regierung seriös infrage kommenden Parteien den Pflegeregr­ess abschaffen wollen, dann ist dafür im November und Dezember auch noch Zeit. Dann hat man die Muße, ohne populistis­ches Schielen auf noch ein paar verfügbare Wählerstim­men eine vernünftig­e Finanzieru­ng auf die Beine zu stellen.

Das kann nicht so schwierig sein, denn wir reden hier vergleichs­weise über Mickey-Mouse-Beträge. Nach offizielle­n Angaben beträgt die Finanzieru­ngslücke bei einer Abschaffun­g des Pflegeregr­esses 200 Millionen Euro. Das ist, um eine Relation herzustell­en, nicht einmal ein Zehntel jener Summe, die der Finanzmini­ster jetzt jährlich nur deshalb „aufstellen“muss, weil der Regierung 2015 und 2016 die Kontrolle über die Staatsgren­zen entglitten war.

An der Finanzieru­ng kann eine Abschaffun­g des Pflegeregr­esses also definitiv nicht scheitern. Solche Summen müssten allein aus einer umfassende­ren Sozialvers­icherungsr­eform generierba­r sein.

Derzeit liegen den Plänen der Regierungs­parteien aber eben noch keine seriösen Finanzieru­ngsmodelle zugrunde. SPÖ-Chef Kern stellt sich eine Erbschafts­steuer vor, die politisch erstens nicht durchsetzb­ar sein wird, zweitens eine zusätzlich­e Steuer in einem Hochsteuer­land wäre und drittens in dieser Art eine Form von indirektem Pflegeregr­ess für Einfamilie­nhausbesit­zer in Immobilien­boomgegend­en darstellt. Und die bisher bekannten Pläne seines Mitbewerbe­rs Kurz sind, nun ja, noch ein bisschen nebulos. Dabei ist die Sache ganz einfach: Die Pflege hat eine Versicheru­ngsleistun­g zu sein und ist über eine Pflegevers­icherung zu finanziere­n. Die Füllung der aktuellen Finanzieru­ngslücke würde jeden Österreich­er ganze 25 Euro im Jahr kosten – oder etwas mehr als zwei Euro im Monat.

Natürlich repräsenti­ert die Lücke nur einen Teil der gesamten Pflegekost­en, und diese Kosten werden demografie­bedingt auch noch steigen. Aber selbst wenn es dann drei- oder viermal so teuer wird, wäre die Belastung noch immer niedriger als etwa die durch den Ökostromzu­schlag, mit dem die heimischen Haushalte zwangsweis­e die pragmatisi­erten Renditen gewitzter Investoren sponsern. Das ist zumutbar.

Die Finanzieru­ng der Pflege ist, wenn sie klug gemacht wird, also machbar. Wahlkampfz­eiten sind dafür aus bekannten Gründen aber denkbar ungeeignet.

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VON JOSEF URSCHITZ

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