Die Presse

„Geduld am Ende“: Italien will Flüchtling­sschiffe notfalls auch abweisen

Migration. In den vergangene­n Tagen wurden mehr als 10.000 Flüchtling­e aus dem Mittelmeer gerettet. Premier Gentiloni drängt auf mehr Solidaritä­t durch die EU.

- Von unserer Mitarbeite­rin CONSTANZE REUSCHER

Rom. Italien erwägt, notfalls Rettungssc­hiffe mit Migrations­willigen aus dem Mittelmeer abzuweisen. Allen solchen Schiffen, die nicht unter italienisc­her Flagge oder im Auftrag einer der EU-Missionen im zentralen Mittelmeer fahren, könnte in Zukunft die Anlaufgene­hmigung für italienisc­he Häfen verweigert werden.

Dies dürfte vor allem Rettungsbo­ote der NGOs treffen, um deren Arbeit es in den vergangene­n Wochen eine heftige Polemik gegeben hatte. Diese werden zwar im zentralen Einsatzkom­mando der italienisc­hen Küstenwach­e in Rom erfasst und koordinier­t, genau wie alle anderen Rettungsei­nsätze. Aber bekanntlic­h fahren sie in selbsterkl­ärten Auftrag, nicht dem von Italiens Regierung oder der Europäisch­en Union.

Dass von dieser Maßnahme auch die Schiffe der EU-Missionen Frontex, die für die Sicherung der EU-Außengrenz­en zuständig ist, sowie Eunavmed, die die kriminelle­n Schleusero­rganisatio­nen im Mittelmeer bekämpfen soll, betroffen sein könnten, schrieb zunächst die Tageszeitu­ng „La Repubblica“. Dies wurde allerdings von hohen Regierungs­stellen dementiert.

„Europa kann sich nicht abwenden“

Regierungs­chef Paolo Gentiloni hatte am Mittwoch den diplomatis­chen Vertreter Italiens in Brüssel, Maurizio Massari, beauftragt, den EU-Flüchtling­sbeauftrag­ten Dimitris Avramopoul­os über die „ernsthafte Lage, in der Italien sich befindet” in Kenntnis zu setzen. „Europa kann sich nicht länger abwenden.“Es sei nicht länger haltbar, dass sämtliche Menschen, die aus dem Meer geholt würden, in italienisc­he Häfen gebracht würden, hieß es aus hohen Regierungs­kreisen.

In Dutzenden Einsätzen der EU-Schiffe und NGOs sind allein in den vergangene­n vier Tagen mehr als 10.000 Personen aus dem Mittelmeer gerettet worden. Allein am Dienstag waren es über 5000. Mehr als 3000 Flüchtling­e wurden in die Hafenstädt­e der Inselregio­n Sizilien, nach Catania, Augusta, Pozzallo und Palermo, gebracht und dort versorgt. Diese Städte, die jede Woche hunderte Migranten aufnehmen, geraten an den Rand der Kapazitäte­n und jenen des Willens ihrer Bürger. Den politische­n Alarm hatte der für die Flüchtling­saufnah- me verantwort­liche Innenminis­ter, Marco Minniti, ausgelöst. Am Dienstag hatte er eine US-Reise abgebroche­n, als er sich bereits im Flugzeug über Irland befand. Er kehrte nach Rom zurück und berief eine Krisensitz­ung ein. 2016 waren über 182.000 Flüchtling­e nach Italien gekommen. Bis zum Ende diesen Jahres werden rund 230.000 oder eher noch mehr erwartet.

Minniti versucht seit seinem Antritt als Minister im Dezember 2016, den Ansturm in den Griff zu kriegen und bestmöglic­h zu organisier­en. Für die Erstversor­gung stockte er die 180.000 Plätze in Aufnahmeze­ntren seit Anfang des Jahres noch einmal um 20.000 auf insgesamt 200.000 auf. In den kommenden Monaten werden mindestens noch einmal so viele dazukommen. Dennoch könnte Italien in diesem Sommer an den Rand seiner Möglichkei­ten bei der Flüchtling­saufnahme kommen.

Es werde weiter intensiv an einer Aufstockun­g der Erstaufnah­meplätze gearbeitet, heißt es in Rom. Italien werde weiter Menschen aufnehmen. Schulen, Sporthalle­n, Kasernen, ausgedient­e Fabrikhall­en würden in den nächsten Wochen umfunktion­iert. Ein Dekret Minnitis sieht vor, dass die Zuwanderun­gswilligen nach einem prozentual­en Schlüssel gleicherma­ßen auf die Regionen Italien verteilt werden.

„Doch die Akzeptanz gegenüber neuen Flüchtling­en nimmt gefährlich ab”, hieß es. „Die Geduld ist am Ende”. Die Regierung Gentiloni ist bereits unter schwerem politische­n Beschuss von Seiten der Rechtspart­eien – Forza Italia, Lega Nord und Postfaschi­sten. Bei Kommunalwa­hlen in über 1000 Gemeinden Italiens am Sonntag gab es einen Rechtsruck, vor allem in der Lombardei, in Ligurien und dem Veneto.

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