Ins superkalte Wasser kommt Bewegung
Physikalische Chemie. Innsbrucker Forscher schossen Elektronenstrahlen auf tiefkaltes Wasser bzw. Eis. Das macht sichtbar, dass es zwei flüssige Zustände gibt, mit unterschiedlichen Dichten und Bewegungsradien der Moleküle.
Die Anomalie des Wassers – der Begriff ist vielen aus der Schulzeit bekannt. Dass Eiswürferl im Glas Wasser oben schwimmen, und nicht wie andere Festkörper absinken (weil sie dichter sind), ist eine dieser Anomalien. Der Festkörper Eis hat eine geringere Dichte als flüssiges Wasser, das seine höchste Dichte bei vier Grad Celsius hat. Nur so ist für Tiere, Pflanzen und Plankton ein Überleben in gefrorenen Gewässern möglich: Sie können unter dem leichten Eis im dichten Wasser überwintern.
Die Erde ist, soweit bisher bekannt, der einzige Himmelskörper, auf dem Eis unter null Grad als kristalliner Festkörper vorliegt. Im Weltall kommt gefrorenes Wasser als amorphes Eis vor, ein glasartiger Zustand ohne kristalline, regelmäßige Struktur der Moleküle. Forscher um Thomas Lörting am Institut für Physikalische Chemie der Uni Innsbruck erforschen diese Zustände: Sie setzen Eis unter hohen Druck – bei tiefsten Tempe- raturen – und erzeugen so hochdichtes, amorphes Eis.
Sie bemerkten vor einigen Jahren, dass ab einer bestimmten Temperatur das amorphe Eis (ein Festkörper) plötzlich zu einer Flüssigkeit wird, bei minus 150 Grad. Es fließt zwar nicht wie Leitungswasser, ist viel zäher als Honig, aber die Bewegung der Moleküle ließ vermuten, dass das superkalte Wasser flüssig ist. Geht man mit der Temperatur weiter hinauf zu minus 137 Grad, bewegen sich die Moleküle wieder langsamer, die Flüssigkeit wird noch zähflüssiger und zugleich weniger dicht.
Proben im Zug nach Hamburg
„Die Wissenschaftsgemeinschaft reagierte aber kritisch, und wir suchten nach einer Methode, um zu beweisen, dass es sich tatsächlich um zwei verschiedene flüssige Zustände handelt“, erklärt Lörting.
Gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Katrin Amann-Winkel, die inzwischen an der Universität Stockholm arbeitet, konnte das Team nun erstmals den Beweis er- bringen: mit riesigen modernen Röntgenstrahl-Maschinen, die es am Großforschungszentrum DESY in Hamburg gibt.
„Unsere Leute in Innsbruck sind mit den Proben, die auf flüssigem Stickstoff bei fast minus 200 Grad gelagert wurden, im Zug nach Hamburg gefahren. Wir hatten nur wenige Tage Zeit, um unsere Theorie zu überprüfen, und haben es geschafft“, berichtet Lörting. Die Wasserproben wurden mit einem Elektronenstrahl beschossen: Mit Hilfe der Kleinwin-
Es wird seit fast 150 Jahren, seit Wilhelm Conrad Röntgen, postuliert. Die Innsbrucker Forscher konnten erstmals zeigen, dass es sich um zwei flüssige Komponenten handelt.
Ab dieser Temperatur zeigt sich die zähflüssige Komponente mit höherer Dichte, ab minus 137 Grad wird es noch zäher und weniger dicht. kelstreuung wurde dabei sichtbar, wie sich die Moleküle zueinander verhalten. „Im tiefgefrorenen Wasser bei minus 200 Grad bewegt sich nichts, die Position der Moleküle ist stabil in diesem amorphen Festkörper“, sagt Lörting. Doch ab minus 150 Grad sieht man, dass Bewegung hineinkommt: „50 mal 50 Nanometer kann ein Wassermolekül pro Sekunde wandern, das ist viel und beweist, dass es sich um flüssigkeitstypische Diffusion handelt.“Die Bewegung wird ab minus 137 Grad schlagartig langsamer, die Dichte nimmt um 25 Prozent ab: Nur mehr fünf mal fünf Nanometer ist der Bewegungsradius, die zweite Flüssigkeit rinnt also langsamer.
Die Forscher gehen davon aus, dass Wasser immer als Mischung dieser zwei Komponenten vorliegt und sich der Anteil an hochdichten und niedrigdichten Zuständen je nach Temperatur ändert. „Bei vier Grad wäre demnach der Anteil an hochdichtem Wasser am höchsten: Eine Erklärung für die Dichteanomalie“, sagt Lörting.