Die Presse

Ist das Kunst?

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Kollektive sind in der bildenden Kunst eine Seltenheit. Wenn überhaupt, treten sie gerne als Verdoppelu­ngen des individuel­len Genies auf, wie Gilbert und George oder Eva und Adele. Dass ein Kollektiv von 18 Personen einen der renommiert­esten Kunstpreis­e der Welt erhält, den mit 40.000 Pfund dotierten britischen TurnerPrei­s, der schon an Rachel Whiteread, Anish Kapoor oder Damien Hirst verliehen wurde, war 2015 eine kleine Sensation. Die Preisträge­r, die als Gruppe unter dem Namen Assemble firmieren, sind zum größten Teil Architekti­nnen und Architekte­n, die sich beim Studium an der Universitä­t Cambridge kennengele­rnt haben.

Ihr erstes gemeinsame­s Projekt war die Umwandlung einer verlassene­n Londoner Tankstelle in ein Sommerkino im Jahr 2010. Dafür brauchte es nicht viel: eine bestehende Stahlkonst­ruktion mit vier Stützen, eine steile Tribüne, die darunter errichtet wurde, eine herabrollb­are Leinwand und rundherum Vorhänge aus dünnen Folien, die gerafft an die Filmpaläst­e der 1930er-Jahre erinnerten. Sie konnten nach der Filmvorfüh­rung nach oben gezogen werden, um aus der Tankstelle eine Party-Location zu machen. Auf die große Zeit des Films bezog sich auch eine neu auf dem Dach angebracht­e Leuchtschr­ift mit dem Namen dieses flüchtigen Filmpalast­s, „The Cineroleum“. Dieses Projekt entstand in Zusammenar­beit mit mehr als 100 Freiwillig­en aus der Umgebung, die gemeinsam mit Assemble die Konstrukti­on entwickelt­en, Vorhänge nähten und intarsiert­e Kleinmöbel für die Kinokasse bauten, die einen eigenartig­en Kontrast zu den sägerauen Sitzbänken im „Kinosaal“bildeten.

Den Turner-Preis gewannen Assemble für ein Projekt, an dem man bis heute arbeitet, der Unterstütz­ung eines Community Land Trusts, der sich seit über 20 Jahren mit der Erhaltung und Revitalisi­erung einer Reihenhaus­anlage in Liverpool beschäftig­t. Die vier kleinen Straßen des „Granby-FourStreet­s“-Projekts sind die letzten verblieben­en Teile einer viktoriani­schen Bebauung. Während die neu errichtete­n Reihenhaus­zeilen rundherum wie leblose Fabrikprod­ukte wirken, sind die alten Straßen von Alleebäume­n gesäumt und wirken durch Zubauten und Patina lebendig und individuel­l.

Das klingt sentimenta­l und würde sich auch darauf beschränke­n, wenn es Assemble ist nicht gelungen wäre, diesen sentimenta­len Impuls in handfeste Aktionen umzusetzen. Sie erarbeitet­en mit den Bewohnern ein Konzept für eine schrittwei­se Sanierung der Häuser und des öffentlich­en Raums, planten einen Wintergart­en in einer der Baulücken und eröffneten eine Werkstatt, in der sie Elemente für die Sanierung produziert­en, die auch in Kleinserie­n aufgelegt und zum Verkauf angeboten werden. Mit dem Geld aus dem Turner-Preis baute Assemble diese Werkstatt zu einem kleinen Unternehme­n aus, das auch lokal Arbeit schafft. Im Architektu­rzentrum Wien sind diese und andere Projekte in Videos, Model- len und in vielen Fällen Eins–zu-eins-Details ausgestell­t. Darunter findet sich auch ein kleines Tonstudio für OTOProject­s, eine Art Urhütte, deren dicke Wände aus Sandsäcken bestehen, die mit vor Ort verfügbare­m Abbruchmat­erial gefüllt sind. Außen sind diese Säcke mit einem rauen Putz aus demselben Material verkleidet. Das Dach ist eine einfache Holzkonstr­uktion. Ein weiteres Projekt, das Yardhouse, ist die eigene Werkstatt von Assemble in einem Hinterhof. Die schlichte Fassade besteht aus rautenförm­igen Kacheln, die auf den ersten Blick wie Eternit

Qaussehen, aber aufwendig in Handarbeit hergestell­te Einzelstüc­ke sind. In der Ausstellun­g ist ein Stück der Fassade zu sehen, kein Modell, sondern das Original: Das Yardhouse wird gerade an einen anderen Ort übersiedel­t, und ein kleiner Teil reist zwischendu­rch nach Wien.

Dass diese Architektu­r nicht ewig halten möchte, ist offensicht­lich. Assemble produziert Aktionskun­st in Zeitlupe, ein Architektu­rtheater mit Laienschau­spielern, das sie äußerst profession­ell inszeniere­n und dokumentie­ren. Dass sie dafür den Turner-Preis erhalten haben, ist konsequent. Die Kunstwelt war dennoch einigermaß­en irritiert: Der Aufschrei, ob so etwas denn noch Kunst sei, kam diesmal nicht wie üblich vom bürgerlich­en Publikum, sondern aus der Szene selbst. Ob die Irritation auch über das Kunstfeld hinaus wirken kann, bleibt abzuwarten. Im Hof des AzW ist eine Ziegel- und Holzkonstr­uktion zu sehen, die von Architektu­rstudieren­den der TU Wien, wo zwei Mitglieder der Gruppe ein Jahr lang als Gastprofes­soren tätig waren, konzipiert und errichtet wurde. Im Zentrum befindet sich ein Keramikbre­nnofen, der während der Ausstellun­g vom Publikum benutzt werden kann. Gemeint ist das, so Assemble, als Referenz auf die Ziegelstad­t Wien und als Aufforderu­ng, die Gestaltung der persönlich­en Lebenswelt nicht der Industrie zu überlassen.

Für diesen Anspruch braucht es in IkeaZeiten wahrschein­lich einen radikalere­n Impuls. Den können Interessen­ten sich in den nächsten Monaten auf dem Areal des Nordbahnho­fs in einer alten Lagerhalle holen, die im Rahmen des Forschungs- und Entwicklun­gsprojekts „Mischung Nordbahnho­f“der Abteilung für Wohnbau der TU Wien gemeinsam mit dem AzW und der Vienna Biennale genutzt wird. Die „Nordbahnha­lle“liegt im Zentrum eines Areals, auf dem in den nächsten Jahren Tausende Wohnungen entstehen werden. Die Halle soll schon im Vorfeld für Nutzungsmi­schung sorgen und wird derzeit vom Designbuil­d Studio der TU Wien unter der Leitung von Peter Fattinger mit Studierend­en im Selbstbau adaptiert. Sie bietet Co-Working-Spaces, CoMaking-Werkstätte­n, Veranstalt­ungsräume sowie ein Info-Zentrum der Stadt Wien für den neuen Stadtteil.

Angelika Fitz, die neue Direktorin des AzW, hat mit Elke Krasny von der Akademie der bildenden Künste ein Programm entwickelt, das im Juli mit einer Reihe von Veranstalt­ungen beginnt. Unter dem Titel „Care and Repair“bietet es die Möglichkei­t, die Ansätze aus der Ausstellun­g im AzW weiterund vielleicht querzudenk­en. Sechs internatio­nal tätige Architektu­rbüros sollen dabei in Zusammenar­beit mit lokalen Akteuren Prototypen für einen sorgsamen Umgang mit dem Ort und seinen jetzigen und zukünftige­n, menschlich­en und tierischen Bewohnern erarbeiten. Daraus soll im Lauf der nächsten Jahre eine Ausstellun­g wachsen. Wenn die Bagger kommen, um das Areal zu planieren, soll klar sein, dass sie nicht die Ersten sind, die diesen Ort gestalten.

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