Die Presse

Wofür braucht es all diese EU-Regeln?

EU-Rechtssetz­ung. Zur Weiterentw­icklung des Binnenmark­ts entstehen immer neue Regeln, alte fallen kaum weg. Die Regierunge­n der Mitgliedst­aaten spielen dabei eine nicht unwesentli­che Rolle – auch wenn sie das nicht zugeben wollen.

- VON WOLFGANG BÖHM

Wien. Es ist ein Kunstwerk, das zum Nachdenken anregt. Rem Koolhaas hat für das Haus der Europäisch­en Geschichte in Brüssel das EU-Recht in ein einziges riesiges Buch drucken lassen. 80.000 Seiten lang ist es und damit einige Meter dick. Für viele mag es ein Beleg für die aufgebläht­e Brüsseler Bürokratie sein, für Juristen ein wichtiges Arbeitsute­nsil, für die EU-Institutio­nen ein Beleg ihrer jahrzehnte­langen Arbeit.

EU-Recht entsteht im Normalfall nicht, weil sich Beamte der EUKommissi­on wieder eine neue Gemeinheit gegen die europäisch­e Bevölkerun­g, gegen Regierunge­n oder nationale Unternehme­n ausdenken. Es entsteht in den überwiegen­den Fällen aus der Notwendigk­eit, einen gemeinsame­n Markt mit über 500 Millionen Menschen fair zu regeln. Es entsteht aber auch zur Umsetzung der gemeinsame­n Politik, die zuvor die 28 Regierunge­n beschlosse­n haben. Wenn beispielsw­eise in Brüssel neue Normen für energiespa­rsamere Staub- sauger vorgeschla­gen und später vom EU-Parlament und den Regierungs­vertretern beschlosse­n werden, geht das auf die Umsetzung der Klimaziele zurück, zu denen sich alle Mitgliedst­aaten bekannt haben.

EU-Recht wächst wie auch jedes staatliche Recht von Jahr zu Jahr, weil sehr oft neue Regeln hinzukomme­n, aber alte nicht in gleichem Maße ausgemiste­t werden. Zwar hat die EU-Kommission versucht, die Flut in den vergangene­n Jahren einzudämme­n und sich von unnötigen Regelungen wie jener zur Gurkenkrüm­mung zu verabschie­den. Diese einst in einem UNGremium entstanden­e Norm ist heute nicht mehr gültig. Aber es blieb letztlich bei einer Eindämmung von neuen Rechtsakte­n, keiner Vollbremsu­ng. 1999 entstanden 2439 neue EU-Verordnung­en, im Vorjahr waren es nur noch 802. Dass noch immer Hunderte Rechtsakte vorgeschla­gen und später abgesegnet werden, hat vor allem mit den technische­n Weiterentw­icklungen zu tun, die neue gemeinsame Regeln im Binnenmark­t unabdingba­r machen. Die digitale Entwicklun­g verlangt beispielsw­eise nach neue Regeln für den grenzübers­chreitende­n Versand oder für den Datenschut­z.

EU-Recht entsteht, auch wenn es darüber beständige Vorurteile gibt, nicht in einem demokratis­chen Graubereic­h abseits staatliche­r Souveränit­ät. Manche nach Brüssel reisende Minister vermitteln zwar gern den Eindruck, sie hätten mit der Entstehung neuer Gesetze auf EU-Ebene nichts zu tun. Die Wahrheit aber ist, über 90 Prozent neuer Regeln werden in Brüssel einstimmig beschlosse­n. Die nationalen Regierunge­n waren nicht nur eingebunde­n, sie haben sie auch mitentschi­eden. Bis auf Teile des Wettbewerb­srechts und Entscheidu­ngen zur Außen- und Sicherheit­spolitik hat auch das Europaparl­ament ein volles Mitentsche­idungsrech­t. Jene Abgeordnet­e, die alle fünf Jahre von der europäisch­en Bevölkerun­g direkt gewählt werden, bestimmen genauso über jede neue Regel mit wie aus den EU-Hauptstädt­en entsandte Minister.

Subsidiari­tätsprinzi­p

Trotz dieser Mitentsche­idung, trotz Bemühungen zur Eindämmung der Regelflut sind auch EU-Institutio­nen nicht davor gefeit, falsche oder fehlerhaft­e Gesetze vorzuschla­gen oder gar zu erlassen. Der Antrieb, ganz Europa etwa mit einem Nichtrauch­erschutz, mit der Kennzeichn­ung allergener Substanzen oder einem einheitlic­hen Mautsystem zu beglücken, mag im Ansatz verständli­ch sein, weicht aber manchmal das in den EU-Verträgen verankerte Subsidiari­tätsprinzi­p unnötigerw­eise auf. Regeln sollten demnach dort geschaffen werden, wo sie am effiziente­sten funktionie­ren. Die EU-Ebene ist nicht automatisc­h die beste dieser Ebenen.

Der Mythos, dass nur die EU absurde Regelungen schafft, die nationalen Regierunge­n aber nicht, ist jedenfalls falsch. In vielen kritisiert­en Fällen, bei denen EU-Recht in die Schlagzeil­en geriet, waren es in Wirklichke­it die nationalen Umsetzungs­bestimmung­en, die den Ärger der Bevölkerun­g ausgelöst haben. So hat die EU beispielsw­eise nie versucht, Schwalben aus Kuhställen zu verbannen. Das war eine in Österreich praktizier­te Überinterp­retation einer regionalen Behörde. Die EU-Regel zu Hygienebes­timmungen in der Landwirtsc­haft hatte nämlich nur Geflügel (z. B. Hühner) in jenem Bereich der Ställe verboten, in dem Kühe gemolken werden. Auch die Allergenke­nnzeichnun­g auf Speisekart­en war keine EU-Idee, sondern eine überfleißi­ge Umsetzung durch den österreich­ischen Gesetzgebe­r. Die EU-Vorgaben haben das gar nicht verlangt. Viele andere Mitgliedst­aaten kommen ohne diese Form der Kennzeichn­ung aus. Da reicht es zum Beispiel, auf verwendete Inhaltssto­ffe auf der Website des Restaurant­s hinzuweise­n.

Recht hat immer etwas mit Gerechtigk­eit zu tun. Es gilt für alle gleich. Es mag manchmal bremsen, einschränk­en, verärgern. Aber es ist die Basis unseres Zusammenle­bens. Dass die Europäisch­e Union auf Rechtsstaa­tlichkeit fußt, eröffnet letztlich eine Debatte, die nie ganz zu Ende geführt wurde. Was ist die EU eigentlich? Ist sie ein Überstaat, der immer mehr Kompetenze­n an sich zieht? Oder ist sie eine internatio­nale Organisati­on wie die UN, die das Zusammenle­ben von Staaten zu verbessern versucht? Die EU ist mit ihrer demokratis­chen Rechtssetz­ung auf supranatio­naler Ebene ein weltweites Unikum. Das macht sie angreifbar – nicht durch ihre externen Feinde, sondern durch interne. 80.000 Seiten Gesetze sind ein großes Potenzial, aber sie erzeugen auch einen Rechtferti­gungsdruck.

Der Mythos, dass nur die EU absurde Regelungen schafft, die nationalen Regierunge­n aber nicht, ist jedenfalls falsch. Dass die EU auf Rechtsstaa­tlichkeit fußt, eröffnet letztlich eine Debatte, die nie ganz zu Ende geführt wurde.

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[ ILLUSTRATI­ON: Marin Goleminov ]

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