Wofür braucht es all diese EU-Regeln?
EU-Rechtssetzung. Zur Weiterentwicklung des Binnenmarkts entstehen immer neue Regeln, alte fallen kaum weg. Die Regierungen der Mitgliedstaaten spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle – auch wenn sie das nicht zugeben wollen.
Wien. Es ist ein Kunstwerk, das zum Nachdenken anregt. Rem Koolhaas hat für das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel das EU-Recht in ein einziges riesiges Buch drucken lassen. 80.000 Seiten lang ist es und damit einige Meter dick. Für viele mag es ein Beleg für die aufgeblähte Brüsseler Bürokratie sein, für Juristen ein wichtiges Arbeitsutensil, für die EU-Institutionen ein Beleg ihrer jahrzehntelangen Arbeit.
EU-Recht entsteht im Normalfall nicht, weil sich Beamte der EUKommission wieder eine neue Gemeinheit gegen die europäische Bevölkerung, gegen Regierungen oder nationale Unternehmen ausdenken. Es entsteht in den überwiegenden Fällen aus der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Markt mit über 500 Millionen Menschen fair zu regeln. Es entsteht aber auch zur Umsetzung der gemeinsamen Politik, die zuvor die 28 Regierungen beschlossen haben. Wenn beispielsweise in Brüssel neue Normen für energiesparsamere Staub- sauger vorgeschlagen und später vom EU-Parlament und den Regierungsvertretern beschlossen werden, geht das auf die Umsetzung der Klimaziele zurück, zu denen sich alle Mitgliedstaaten bekannt haben.
EU-Recht wächst wie auch jedes staatliche Recht von Jahr zu Jahr, weil sehr oft neue Regeln hinzukommen, aber alte nicht in gleichem Maße ausgemistet werden. Zwar hat die EU-Kommission versucht, die Flut in den vergangenen Jahren einzudämmen und sich von unnötigen Regelungen wie jener zur Gurkenkrümmung zu verabschieden. Diese einst in einem UNGremium entstandene Norm ist heute nicht mehr gültig. Aber es blieb letztlich bei einer Eindämmung von neuen Rechtsakten, keiner Vollbremsung. 1999 entstanden 2439 neue EU-Verordnungen, im Vorjahr waren es nur noch 802. Dass noch immer Hunderte Rechtsakte vorgeschlagen und später abgesegnet werden, hat vor allem mit den technischen Weiterentwicklungen zu tun, die neue gemeinsame Regeln im Binnenmarkt unabdingbar machen. Die digitale Entwicklung verlangt beispielsweise nach neue Regeln für den grenzüberschreitenden Versand oder für den Datenschutz.
EU-Recht entsteht, auch wenn es darüber beständige Vorurteile gibt, nicht in einem demokratischen Graubereich abseits staatlicher Souveränität. Manche nach Brüssel reisende Minister vermitteln zwar gern den Eindruck, sie hätten mit der Entstehung neuer Gesetze auf EU-Ebene nichts zu tun. Die Wahrheit aber ist, über 90 Prozent neuer Regeln werden in Brüssel einstimmig beschlossen. Die nationalen Regierungen waren nicht nur eingebunden, sie haben sie auch mitentschieden. Bis auf Teile des Wettbewerbsrechts und Entscheidungen zur Außen- und Sicherheitspolitik hat auch das Europaparlament ein volles Mitentscheidungsrecht. Jene Abgeordnete, die alle fünf Jahre von der europäischen Bevölkerung direkt gewählt werden, bestimmen genauso über jede neue Regel mit wie aus den EU-Hauptstädten entsandte Minister.
Subsidiaritätsprinzip
Trotz dieser Mitentscheidung, trotz Bemühungen zur Eindämmung der Regelflut sind auch EU-Institutionen nicht davor gefeit, falsche oder fehlerhafte Gesetze vorzuschlagen oder gar zu erlassen. Der Antrieb, ganz Europa etwa mit einem Nichtraucherschutz, mit der Kennzeichnung allergener Substanzen oder einem einheitlichen Mautsystem zu beglücken, mag im Ansatz verständlich sein, weicht aber manchmal das in den EU-Verträgen verankerte Subsidiaritätsprinzip unnötigerweise auf. Regeln sollten demnach dort geschaffen werden, wo sie am effizientesten funktionieren. Die EU-Ebene ist nicht automatisch die beste dieser Ebenen.
Der Mythos, dass nur die EU absurde Regelungen schafft, die nationalen Regierungen aber nicht, ist jedenfalls falsch. In vielen kritisierten Fällen, bei denen EU-Recht in die Schlagzeilen geriet, waren es in Wirklichkeit die nationalen Umsetzungsbestimmungen, die den Ärger der Bevölkerung ausgelöst haben. So hat die EU beispielsweise nie versucht, Schwalben aus Kuhställen zu verbannen. Das war eine in Österreich praktizierte Überinterpretation einer regionalen Behörde. Die EU-Regel zu Hygienebestimmungen in der Landwirtschaft hatte nämlich nur Geflügel (z. B. Hühner) in jenem Bereich der Ställe verboten, in dem Kühe gemolken werden. Auch die Allergenkennzeichnung auf Speisekarten war keine EU-Idee, sondern eine überfleißige Umsetzung durch den österreichischen Gesetzgeber. Die EU-Vorgaben haben das gar nicht verlangt. Viele andere Mitgliedstaaten kommen ohne diese Form der Kennzeichnung aus. Da reicht es zum Beispiel, auf verwendete Inhaltsstoffe auf der Website des Restaurants hinzuweisen.
Recht hat immer etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Es gilt für alle gleich. Es mag manchmal bremsen, einschränken, verärgern. Aber es ist die Basis unseres Zusammenlebens. Dass die Europäische Union auf Rechtsstaatlichkeit fußt, eröffnet letztlich eine Debatte, die nie ganz zu Ende geführt wurde. Was ist die EU eigentlich? Ist sie ein Überstaat, der immer mehr Kompetenzen an sich zieht? Oder ist sie eine internationale Organisation wie die UN, die das Zusammenleben von Staaten zu verbessern versucht? Die EU ist mit ihrer demokratischen Rechtssetzung auf supranationaler Ebene ein weltweites Unikum. Das macht sie angreifbar – nicht durch ihre externen Feinde, sondern durch interne. 80.000 Seiten Gesetze sind ein großes Potenzial, aber sie erzeugen auch einen Rechtfertigungsdruck.
Der Mythos, dass nur die EU absurde Regelungen schafft, die nationalen Regierungen aber nicht, ist jedenfalls falsch. Dass die EU auf Rechtsstaatlichkeit fußt, eröffnet letztlich eine Debatte, die nie ganz zu Ende geführt wurde.