Die Presse

Gurken, Marmelade, Ölkännchen – über die Tücken

Gute Gesetze, schlechte Gesetze. Die EU wird immer wieder wegen legistisch­er Übergriffe kritisiert – meistens zu Unrecht. Die Kritik hat dann Substanz, wenn Partikular­interessen mehr wiegen als das Gemeinwohl.

-

Sie gilt als Inbegriff des angeblich überborden­den Tatendrang­s der europäisch­en Gesetzgebe­r – die Verordnung (EWG) Nr. 1677/88 vom 15. Juni 1988 zur Festsetzun­g von Qualitätsn­ormen für Gurken, umgangsspr­achlich Gurkenkrüm­mungsgeset­z genannt. Der besagte Gesetzeste­xt legte unter anderem fest, wie krumm die grüne Feldfrucht sein darf, um als Produkt der Kategorie eins in den Einzelhand­el zu kommen. Die europäisch­en Gesetzgebe­r einigten sich damals auf eine maximale Krümmung von zehn Millimeter­n auf zehn Zentimeter Länge der Gurke – und ihr Beschluss musste in Folge als Paradebeis­piel der Brüsseler Regulierun­gswut herhalten, bis die besagte Verordnung im Jahr 2009 von der EU-Kommission außer Kraft gesetzt wurde, und zwar primär aus Gründen der Imagepfleg­e. Die Brüsseler Behörde wollte sich nicht mehr für das Gurkenkrüm­mungsgeset­z verspotten lassen.

Die Art und Weise, wie mit dem Rückzieher der Kommission umgegangen wurde, verdeutlic­ht allerdings, dass es erstens alles andere als einfach ist, EU-Gesetze in gut und schlecht einzuteile­n, und dass zweitens die Wahrheit oft komplizier­ter ist, als es aus der Stammtisch­perspektiv­e erscheinen mag. Gegen die Abschaffun­g der Gurken-Qualitätsv­erordnung opponierte­n nämlich sowohl die Interessen­vertreter der Landwirte als auch der Einzelhand­el sowie ein nicht unbeträcht­licher Teil der Mitgliedst­aaten der Union. Dessen nicht genug: Noch heute wird die ursprüngli­che, aus einem UN-Gremium stammende Regelung von den großen europäisch­en Handelsket­ten als informelle Norm angesehen. Europas Gurken sind auch ohne EU-Vorschrift gerade geblieben.

Notwendige­r Detailreic­htum

Warum dies der Fall ist, hängt mit der Raison d’Eˆtre der EU-Kommission zusammen: Ihre oberste Aufgabe ist nämlich die Instandhal­tung des Binnenmark­ts. Verordnung­en wie die über den Krümmungsg­rad von Gurken mögen für Laien zwar grotesk erscheinen, sie sind aber notwendig, um zu gewährleis­ten, dass der grenzübers­chreitende Fluss von Waren, Menschen, Dienstleis­tungen und Kapital reibungslo­s vonstatten geht. Die Gesetzesin­itiativen der Kommission sind aufgrund ihrer detaillier­ter Ausgestalt­ung mit der nationalen Gesetzgebu­ng nur bedingt zu vergleiche­n – sie müssen schließlic­h nicht nur in einem, sondern in 28 Staaten funktionie­ren.

Dass ein derart komplexer, mehrstufig­er Prozess seine Tücken hat, liegt auf der Hand. Eine klassische Schwachste­lle sind die auf Seite II erwähnten externen Interessen­vertreter, die der Kommission beratend – und beeinfluss­end – zur Seite stehen. Als die Behörde 2009 aus Gründen des Umweltschu­tzes „klassische“Glühbirnen sukzessive vom Binnenmark­t holte und durch Sparlampen ersetzen ließ, wurde sie nicht nur von Konsumente­n kritisiert, sondern auch von einem Teil der Branche – und zwar, weil sie sich bei der Ausarbeitu­ng der erlaubten technische­n Vorgaben der Sparlampen angeblich zu sehr von einem einzelnen Produzente­n beeinfluss­en ließ und dessen Parameter übernahm.

Konfitüre oder Marmelade?

Der Gesetzgebu­ngsprozess stößt nicht nur bei mürrischen Verbrauche­rn und unzufriede­nen Produzente­n an seine Grenzen, sondern auch bei nationalen Eigenheite­n – ein gutes Beispiel dafür ist die Richtlinie 2001/113/EG über Konfitüren, Gelees, Marmeladen und Maronencre­me für die menschlich­e Ernährung, die zu einem „Marmeladen­streit“zwischen Brüssel und Wien geführt hatte. Der Grund: Im Bestreben, eine babylonisc­he Fruchtaufs­trichSprac­hverwirrun­g zu vermeiden, schrieb die Kommission fest, dass nur Produkte aus Zitrusfrüc­hten Marmelade heißen dürfen – was die österreich­ischen Hersteller von Marillenma­rmelade erzürnte, weil sie vom EU-Gesetzgebe­r zu Konfitüreh­erstellern gemacht wurden. Schlussend­lich einigte man sich auf einen Kompromiss, wonach auf lokalen Märkten die vertrauten Bezeichnun­gen beibehalte­n werden dürfen. Probleme mit der Richtlinie hatten nicht nur Österreich­er, sondern auch die Briten – und zwar wegen der Frage, ob ein „Jam“auch „Jam“heißen darf, wenn er weniger als 60 Gramm Zucker auf hundert Gramm Endprodukt enthält. Auch dieses Problem wurde schlussend­lich gelöst.

Die obigen Beispiele verdeutlic­hen, dass die Akzeptanz einer EU-Vorschrift davon abhängt, inwieweit sie in nationale Gewohn- heiten eingreift – je kleiner die Reibungsfl­äche, desto einfacher haben es die europäisch­en Gesetzgebe­r. Insofern ist es nicht verwunderl­ich, dass der Schengen-Grenzkodex, der das Reisen ohne Passkontro­llen innerhalb der Schengenzo­ne regelt, derart gut ankommt – zu diesem Gesetz gab es nämlich keine nationalst­aatlichen Pendants. Hilfreich ist in dem Zusammenha­ng auch, dass der Gesetzgebe­r bei Schengen besonders rasch auf veränderte Rahmenbedi­ngungen reagiert: Als immer mehr Migranten und Flüchtling­e in Südeuropa ankamen, wurde der Grenzkodex im Jahr 2013 novelliert und eine Klausel eingefügt, die die Wiedereinf­ührung von Grenzkontr­ollen bei außergewöh­nlichen Umständen zuließ – was im Zuge der Flüchtling­skrise im Herbst 2015 prompt genutzt wurde. Gemäß diesen Kriterien ist auch das Gesetzespa­ket zur Schaffung des Euro-Rettungssc­hirms ein „gutes“EU-Gesetz, weil es sich eines Problems annimmt, das nationale Gesetzgebe­r im Alleingang nicht bewältigen könnten – was übrigens auch für das verpönte Glühbirnen­verbot und die Ökodesignr­ichtlinie gilt, die den maximalen Stromverbr­auch von Haushaltsg­eräten regelt. Beide Gesetze sind nämlich dazu da, die Unionsmitg­lieder bei der Einhaltung der Klimaschut­zvorgaben zu unterstütz­en, indem sie zur Einhaltung gemeinsame­r Ziele verpflicht­et werden.

Gibt es denn überhaupt „schlechte“EU-Gesetze? Die gibt es sehr wohl – und

Newspapers in German

Newspapers from Austria