„Was nutzen mir diese wunderbaren Rechte ohne wirksame Durchsetzung?“
Datenschutz. Christiane Wendehorst, Professorin an der Uni Wien und Vizepräsidentin des European Law Institute, ortet Verbesserungsbedarf im EU-Recht – auch in Bereichen, für die sich Politik nicht interessiert.
Die Presse: Sie sind Vizepräsidentin des European Law Institute (ELI) in Wien, das die Qualität des EU-Rechts steigern soll. Wo sehen Sie das größte Potenzial? Christiane Wendehorst: Ich sehe es in zwei Aspekten: Der eine betrifft Langzeitprojekte, bei denen die Politik oft nicht den Anreiz, nicht den Atem oder vielleicht nicht das Interesse hat, sie aufzugreifen, die aber dennoch aufgegriffen werden müssen.
Zum Beispiel? Das ELI entwickelt mit Unidroit europäische Modellregeln des Zivilprozesses. Dieses Projekt wird über Jahre laufen. Es wird aber einen Referenzrahmen bieten, auf dem die Politik schon begonnen hat aufzubauen. Die Politik selbst würde solche Projekte kaum angehen.
Mit Prozessrecht punktet sie nicht. Richtig. Ähnlich werden wir hoffentlich bald ein Projekt zu gemeinsamen Verfassungsprinzipien aufsetzen, das ebenfalls über Jahre laufen wird und einen Zeitraum übersteigt, den Politiker normalerweise als ihren Handlungshorizont ansehen.
Wozu? Die Grundrechtecharta gilt bereits EU-weit. Es gibt darüber hinaus Verfassungsprinzipien, hinsichtlich derer noch kein in gleichem Maße ausgeprägter und verschriftlichter Konsens besteht. Wir sehen ja zum Beispiel im Konflikt mit Polen, wie sehr verfassungsrechtliche Prinzipien noch Gegenstand intensiver Diskussion sind und ein Problem darstellen können.
Geht es um die Frage, ob Verfassungsgerichte für die Politik unantastbar sind? Das ist eine Frage, die sich aufdrängt.
Was ist der zweite Aspekt des Potenzials? Den sehe ich in der unabhängigen Beantwortung drängender Fragen der gesetzgeberischen Tagespolitik, zum Beispiel im Bereich der Digitalisierung. Zu Themen wie Plattformwirtschaft, Internet der Dinge, Datenwirtschaft usw. müssen rechtliche Antworten gefunden werden. Da sehe ich das große Potenzial in der Unabhängigkeit des ELI von Partikularinteressen. Wir vertreten nicht einseitig Wirtschafts- oder Verbraucherinteressen, sondern versuchen, durch die große Zahl an Fachleuten, die zu Projekten beitragen, ausgewogene und konsensfähige Lösungen zu erarbeiten.
Die EU will den Kauf digitaler Produkte, von Software über Bücher bis Videos, einheitlich regeln. Sie haben einmal gewarnt, die Regelung drohe zu industriefreundlich auszufallen. Gilt das noch? Nicht mehr in dem Maße. Wir haben vor einigen Tagen eine allgemeine Ausrichtung aus dem Rat bekommen. Da bin ich zwar nicht mit allem glücklich, aber zentrale Punkte sind entschärft worden. Zum Beispiel der allzu industriefreundliche Fehlerbegriff, nach dem ein Produkt nur noch die Eigenschaften haben musste, die der Hersteller in seinem Kleingedruckten angibt.
Das ELI beschäftigt sich auch mit dem digitalen Nachlass, also Informationen, die Verstorbene im Internet hinterlassen. Ja, damit hat ein mögliches Gemeinschaftsprojekt mit der Uniform Law Commission zu tun: Wer hat Zugang zu den sogenannten Digital Assets, wenn jemand stirbt? Ist das so zu behandeln wie ganz normale Verlassenschaftsgegenstände? Liebesbriefe, die irgendwo herumliegen, gelangen ja auch in die Hände der Erben. Manche meinen, warum sollte ein E-Mail-, Facebookoder WhatsApp-Account anders zu behandeln sein als physische Briefe, die noch im Schreibtisch liegen, wenn der Betreffende verstirbt. Andere machen geltend, dass sich durch den Zugang zu den virtuellen Konten automatisch das tiefste Innere einer Person offenbare und dass der Zugang durch Erben beschränkt werden müsse. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Das Problem hat sich auch in Kanada, den USA und anderen Ländern gestellt, und hier wollen wir möglicherweise gemeinsame Grundsätze erarbeiten. Das wäre auch deswegen so wichtig, weil viele der Daten letztlich bei US-Unternehmen liegen.
Eine EU-Regelung genügt also gar nicht? Es wäre schon ein guter Schritt, denn USUnternehmen müssen sich ja in gewissen Grenzen an EU-Recht halten. Ob sie das immer tun, ist eine andere Frage. Eine transatlantische Einigung wäre aber sicher noch besser.
Im Mai 2018 tritt die EU-Datenschutzgrundverordnung in Kraft. Die Koalition hat jetzt im Eiltempo Anpassungen im Datenschutzgesetz beschlossen. Was halten Sie davon? Zunächst einmal bin ich erleichtert, dass dieses Gesetz noch durchgegangen ist und unsere Unternehmen damit genug Zeit haben, sich auch auf die Details der künftigen Rechtslage in Österreich einzustellen. Natürlich hatte die Eile ihren Preis. Bei einigen Punkten war man in meinen Augen zu zaghaft: Zum Beispiel konnte man sich nicht entschließen, eine Verbandsklage einzuführen.
Der Datenschutz ist das eine; das andere ist, wie die Menschen selbst mit ihren Daten umgehen. Sind wir gegenüber den großen Playern wie Facebook oder Google genug geschützt? Nein. Wobei das nicht unbedingt daran liegt, dass zu wenig Rechte auf dem Papier stünden. Die Datenschutzgrundverordnung liest sich wunderbar. Da werden dem Einzelnen sogar sehr weitreichende Rechte gegeben. Aber das Problem liegt einerseits im Bewusstsein und in den digitalen Fähigkeiten der Nutzer selbst; auf der anderen Seite in der Rechtsdurchsetzung. Was nutzen mir diese wunderbaren Rechte, wenn die Einzelnen nicht gerade Max Schrems (Gründer der Initiative Europe vs. Facebook, Anm.) heißen und ihre Freizeit damit verbringen, Rechtsdurchsetzung zu betreiben? Für Durchschnittskonsumenten ist das ausgeschlossen. Es fehlt an hinreichend wirksamen Mechanismen der Rechtsdurchsetzung.
Was käme dafür in Frage? Zum Beispiel eine Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes. Es gäbe aber auch innovative Lösungen wie die von mir entwickelte Data Trusteeship, die zugleich der EUDatenwirtschaft helfen würde: Ein Treuhänder übernimmt die Durchsetzung der Rechte des Betroffenen, wirtschaftet nach dessen Vorgaben aber auch mit den Daten. Christiane Wendehorst, Das European Law Institute (ELI)