Dissident Liu Xiaobo tot
Nachruf. Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo war eine Schlüsselfigur der chinesischen Demokratiebewegung. In seinen Schriften übte er schonungslos Kritik am System, gab dessen Opfern eine Stimme. Nun erlag er 61-jährig einem Krebsleiden.
Der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo erlag am Donnerstag einer Krebserkrankung. Ein Nachruf.
Peking. Am Ende hatte Liu Xiaobo nur noch einen Wunsch: Er wollte ein letztes Mal seine Frau, Liu Xia, um sich haben, die all die Jahre stets zu ihm gehalten hat und seit sieben Jahren selbst unter Hausarrest steht. Diesen einen Wunsch gewährte ihnen der chinesische Staat und ließ sie zu seinem Krankenbett. Am Donnerstag ist Liu Xiaobo mit 61 Jahren gestorben.
Das war jedoch auch schon alles, was Chinas Führung an Barmherzigkeit dem Friedensnobelpreisträger zugestand. In den Tagen zuvor hatte Liu Xia die Behörden geradezu angefleht, ihren schwer an Leberkrebs erkrankten Mann nach Heidelberg ausfliegen und ihn von deutschen Ärzten behandeln zu lassen. Doch die chinesischen Behörden lehnten ab. Die Botschaft der chinesischen Führung war klar: Liu sollte selbst im Sterben noch bestraft werden.
Mit dem Tod von Liu Xiaobo ist einer der tapfersten und scharfsinnigsten Kritiker des chinesischen Regimes verloren gegangen. Die chinesische Regierung hatte den Philosophen, Literaturwissenschaftler und Dichter bereits vor Jahren zu ihrem Staatsfeind erkoren – obwohl Liu nur über eine einzige Waffe verfügte: das geschriebene und gesprochene Wort.
Er deckte die Lügen der KP auf
In Hunderten Analysen, Interviews und Berichten dokumentierte er die Schattenseiten des chinesischen Aufstiegs. Liu schrieb über das Schicksal seiner Mitstreiter, die unter den korrupten Parteisekretären zu leiden hatten. Er deckte die Lügen der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas auf. Und er schilderte die Ausbeutung von Millionen von Wanderarbeitern, die zu niedrigen Löhnen die wahren Helden des chinesischen Wirtschaftswunders waren.
All das tat er in einer unverblümten Sprache, wie sie für chinesische Dichter bis heute untypisch ist – nahe dran an der aktuellen gesellschaftlichen Realität und für all jene ein Augenöffner, die sich von den vielen hochgezogenen blinkenden Wolkenkratzern und Shoppingmalls haben blenden lassen.
Geboren und aufgewachsen inmitten der Wirren der Kulturrevolution der Sechziger- und Siebzigerjahre, musste Liu Xiaobo schon in jungen Jahren miterleben, wie grausam das kommunistische Regime war. Der damalige Staatsführer Mao Zedong hatte Millionen – vor allem junge – Leute dazu angestiftet, mit sämtlichen Traditionen zu brechen. Er ermunterte sie, ihre Eltern und Lehrer, Geschwister und Freunde zu denunzieren und zu demütigten. Lius Familie wurde, wie viele Stadtbewohner und besonders Akademiker in jener Zeit, aufs Land umgesiedelt. Als „verwöhnte Städter“sollten sie das „wahre Leben“kennenlernen. Vier Jahre mussten sie dort ausharren.
Als die Universitäten wieder unterrichten durften, konnte Liu in Peking zunächst Literaturwissenschaften studieren, später wurde er dort Dozent. Nach dem Tode Maos, als sich das Land allmählich öffnete, konnte Liu nach Oslo, Hawaii und New York reisen, um dort zu forschen und zu lehren.
Als im Frühjahr 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Tian’anmen-Platz im Herzen Pekings, die Demokratieproteste ausbrachen, kehrte er aus New York zurück. Er organisierte Diskussionen, veröffentlichte Aufrufe. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau, Liu Xia, kennen, eine damals bereits bekannte Dichterin.
In der Nacht zum 4. Juni fuhren Panzer auf und begannen damit, die Proteste blutig niederzuschlagen. Liu bewahrte etliche Aktivisten vor dem Tod, indem er auf sie einredete, sich ja nicht selbst zu opfern und den Platz zu verlassen. Sein Engagement auf dem Tian’anmen brachte ihm seine erste Gefängnisstrafe ein. Er musste für zwei Jahre in Haft – und kam erst frei, nachdem er ein „Geständnis“unterschrieben hatte.
„Ich kenne keinen Hass“
Dieses „Geständnis“bereute er später tief. Es hielt ihn aber nicht davon ab, auch weiter über die Missstände zu berichten und sich für eine Demokratisierung seines Landes einzusetzen. Er ließ sich selbst dann nicht einschüchtern, als die KP-Führung ihn für weitere Jahre ins Arbeitslager steckte. Seine Freundin, Liu Xia, heiratete er 1996 in einem Arbeitslager, es war seine zweite Ehe.
Dabei waren Lius Forderungen nicht besonders radikal. Er forderte ein, was einige der Machthaber in Peking zwischenzeitlich selbst immer wieder vorbrachten: Rechtssicherheit, Verwaltungsreformen, eine Demokratisierung der Gesellschaft. Seine ursprünglich oft sehr scharfen Formulierungen wurden in späteren Jahren milder und verbindlicher. „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“, sollte er zu seinen Richtern sagen, die ihn am Ende ins Gefängnis warfen.
Endgültig zum Verhängnis für ihn wurde ausgerechnet das Pekinger Olympiajahr 2008, als die chinesische Führung sich als weltoffen und tolerant präsentieren wollte. Liu und seine Mitstreiter sahen die Zeit gekommen, die sogenannte „Charta 08“zu formulieren, die sich an der „Charta 77“orientierte, dem Bürgerrechtsappell des tschechischen Autors Vaclav´ Havel. Darin entwarfen sie die Vision eines anderen China: Eines Landes, in dem die Gesetze über der Partei stehen und nicht umgekehrt – und mehrere Parteien konkurrieren.
Die chinesische Führung reagierte schnell und scharf: Im Dezember holten Polizisten Liu aus seiner Wohnung und brachten ihn an einen unbekannten Ort, seine Ehefrau wurde unter Hausarrest gestellt. Ende 2009 wurde Liu vor Gericht gestellt und in einem Schauprozess wegen „Untergrabung der Autorität des Staates“zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Als ihm 2010 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, blieb sein Stuhl in Oslo leer. Seine Frau, Liu Xia, stand weiterhin unter Hausarrest, sie durfte nicht ausreisen, um die Ehrung in seinem Namen entgegenzunehmen.
Dass er trotz der Haft und Schikane all die Jahre nicht an Mut verlor, hatte er der selbstlosen Liebe seiner Frau zu verdanken. „Deine Liebe ist das Sonnenlicht, das über hohe Mauern springt und die Gitterstäbe meines Gefängnisfensters durchdringt, jeden Zentimeter meiner Haut streichelt, jede Zelle meines Körpers wärmt und mir erlaubt, immer Frieden, Offenheit und Helligkeit in meinem Herzen zu bewahren, und jede Minute meiner Zeit in Haft mit Bedeutung erfüllt“, schrieb er 2009, kurz bevor er verurteilt wurde.
„Ich sitze meine Strafe in einem konkreten Gefängnis ab, während Du in dem unfassbaren Gefängnis des Herzens wartest“, schrieb er weiter. Dieses Warten hat nun ein tragisches Ende genommen.