„Wir kämpfen weiter, auch wenn sie schießen“
Interview. Die Frau des venezolanischen Oppositionsführers Lopez,´ Lilian Tintori, sieht sich von der Staatengemeinschaft alleingelassen. Sie fordert mehr Unterstützung im Kampf gegen das Regime von Präsident Maduro – vor allem von der EU.
Seit gut hundert Tagen gibt es in Venezuela fast täglich heftige Proteste gegen die sozialistische Regierung von Präsident Nicolas´ Maduro. 94 Menschen sind dabei bereits getötet worden. Polizei und Milizen gehen brutal gegen Demonstranten vor. Und die Lage droht weiter zu eskalieren: Die Opposition hat für Sonntag zu einer Volksabstimmung gegen die von Maduro geplante Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung aufgerufen.
Seit dem Ölpreisverfall zeigen sich die schweren ökonomischen Probleme des sozialistischen Landes, das zu den ölreichsten Staaten der Erde zählt. Die Inflationsrate liegt bei mehr als 1000 Prozent, die Wirtschaft ist praktisch kollabiert.
Überraschend hat der Präsident am Wochenende den gesundheitlich sehr geschwächten Oppositionsführer Leopoldo Lo-´ pez aus dem Militärgefängnis Ramo Verde entlassen. Der 46-Jährige soll nun die restliche Strafe von weiteren zehn Jahren wegen angeblicher Anstachelung zur Gewalt im Hausarrest absitzen. Seine Ehefrau, Lilian Tintori (39), kämpft seit Jahren für Demokratie und die Menschenrechte in Venezuela.
Die Presse: Sehen Sie nach mehr als hundert Tagen Protesten einen Ausweg aus der Krise? Lilian Tintori: Wir protestieren, weil unser Land in einer tiefen Krise steckt. Es gibt kein Essen, keine Medizin, dafür viele politische Gefangene. Es gibt keine Gerechtigkeit. Wir wollen nicht mehr so leben. Uns wurde das Wahlrecht genommen. Die Regionalwahlen wurden abgesagt, das Referendum zur Abwahl von Präsident Maduro wurde unmöglich gemacht. Im März hat Maduro versucht, die Nationalversammlung quasi zu eliminieren. Er bedient sich dabei des Obersten Gerichts als willigen Armes für seine Diktatur. Es gibt keine Gewaltenteilung mehr.
Warum werden die Proteste jetzt gewalttätiger? Viele Demonstranten wurden attackiert, das macht wütend. Polizei und Nationalgarde schießen auf die Leute aus kurzer Distanz. Seit Beginn der Proteste Anfang April sind schon 94 Menschen getötet worden, überwiegend junge. 3616 Menschen wurden verhaftet, einige wurden gefoltert. Es gibt derzeit 437 politische Häftlinge. Nach hundert Tagen Repression gegen die Proteste ist völlig klar, dass Nicolas´ Maduro wie ein Diktator herrscht, er unterdrückt sein Volk. Die Leute wollen in Frieden leben. Und sie wollen über ihr Schicksal in freien Wahlen entscheiden.
Es gibt eine große Versorgungskrise: Millionen Venezolaner hungern. In Spitälern sterben Tausende, weil Medizin fehlt. Wie erklären Sie es, dass Maduro trotz dieser Zustände immer noch von Millionen unterstützt wird und die Armee hinter ihm steht? Das ist von außen schwer zu verstehen. Ich verstehe es auch nicht. Maduro hat das Land zerstört. Der Rechtsstaat ist aufgehoben, die Regierung hat die absolute Macht an sich gerissen. Aber Maduro nutzt geschickt die staatlichen Medien.
Die Opposition bittet um internationale Unterstützung. Was für eine Hilfe erwarten Sie? Es ist notwendig, dass andere Länder ihre Stimme erheben. Wir bitten darum, dass andere Länder sich einmischen. Dass sie allen möglichen Druck auf Maduro ausüben. Venezuela entwickelt sich in eine schreckliche Richtung. Das Regime ist korrupt und auch verbunden mit dem Drogenhandel.
In Lateinamerika hat sich eine Reihe von einst verbündeten Ländern von Venezuelas sozialistischem Regime abgewandt. Was kann die EU tun? Die Europäische Union könnte sehr viel mehr tun. Sie könnte eine offizielle Mission entsenden, um die Volksabstimmung über Maduros Plan, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, zu unterstützen. Das Referendum wurde vom gewählten Parlament beschlossen, Maduro will es verhindern. Mit dem Verfassungskonvent will er dem Land eine neue Verfassung geben, die seine Macht zementiert. Die internationale Gemeinschaft hätte mehr Werkzeuge, um den Druck auf diese Diktatur zu erhöhen. Zum Beispiel durch die Demokratische Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die von zwanzig Ländern unterstützt wird, bis auf die kleinen Karibikstaaten, die von Maduros Öllieferungen abhängen. Die EU könnte diese Länder ermuntern, dass sie sich zur Demokratischen Charta bekennen. Wenn Maduro ohne Verbündete dasteht – bis auf Kuba –, würde der Druck zu Wahlen zunehmen.
Sie fordern Wahlen. Gibt es nicht auch in der Opposition Kräfte, die auf anderem Weg die Regierung beseitigen wollen? Wir wollen einen Abgang dieser Regierung in einer friedlichen, verfassungsgemäßen und demokratischen Weise. Wir sind gegen Gewalt, gegen einen Staatsstreich und gegen eine Militärregierung. Die Bürger selbst sollen das Land retten. Wir wollen freie Wahlen, und die internationale Gemeinschaft soll das garantieren.
Ist das denn realistisch? Präsident Maduro hat schon gesagt, dass er die Macht nicht aufgeben wird, und dass er zu den Waffen greifen will, um „die Revolution zu verteidigen“. Das hat er gesagt, ja. Diese Drohungen zeigen, wer er ist. Er weiß schon, dass er die Unterstützung der großen Mehrheit der Bürger verloren hat. Daher stützt er sich jetzt auf Waffengewalt. Aber genau das muss die internationale Gemeinschaft anprangern. Warum gibt es – nach dieser Drohung – keine schärferen internationalen Proteste? Warum haben weder die UN noch die EU oder die OAS eine Mission nach Venezuela geschickt? Sie sind mitverantwortlich für das, was hier passiert, wenn sie nichts tun.
Ihr Mann saß mehr als drei Jahre im Gefängnis, jetzt muss er im Hausarrest die restliche Strafe absitzen, theoretisch noch zehn Jahre. Bei Demonstrationen sind Sie immer wieder in schwierigen Situationen. Wie gehen Sie persönlich mit der Bedrohung um? Wir werden weiter kämpfen, auch wenn sie auf uns schießen, auch wenn es unser Leben kosten sollte. Der Kampf für die Freiheit ist nun mal so, der Kampf für Freiheit ist es wert. Es gab schon viele Tote, viele sind im Gefängnis. Meine Kinder haben drei Jahre ohne ihren Vater gelebt, das war hart für sie. Wir geben nicht auf. Aber wir bitten um mehr Unterstützung.