Die Presse

Beipackzet­tel lesen und Arzt fragen

Parkinson-Patientin reagierte auf unverschul­dete leichte Kollision falsch und fuhr ihr Auto zu Schrott. Der OGH stellt klar: Sie kann zu einem Drittel mitschuldi­g sein.

- VON BENEDIKT KOMMENDA

Wien. Gas statt Bremse: Dieses kleine Missgeschi­ck kostete eine 74-Jährige ihr Auto und ihre Unversehrt­heit. Auslöser des Unglücks war eine leichte Kollision mit einem anderen Auto gewesen; daran war die Frau zwar nicht schuld; weil sie als Parkinson-Patientin aber Medikament­e einnahm, welche die Verkehrstü­chtigkeit beeinträch­tigen konnten, stellte sich die Frage, ob sie einen Teil der Schuld am materielle­n und körperlich­en Schaden selbst zu tragen hat. Der Oberste Gerichtsho­f ( OGH) hat nun erstmals klargestel­lt, wie in dieser Situation zu entscheide­n ist.

Wer medikament­ös behandelt wird, muss demnach nicht nur die Gebrauchsi­nformation zu den Medikament­en lesen, sondern sich im Zweifelsfa­ll auch aktiv um fachkundig­e Auskunft bemühen.

Die erste Kollision war noch harmlos und verschulde­nstechnisc­h ein Routinefal­l: Die 74-Jährige fuhr mit 40 km/h unmittelba­r neben einem Radstreife­n am rechten Fahrbahnra­nd dahin, als plötzlich von rechts ein Auto rückwärts aus einer Garage kam. Weil die Sicht verstellt war, hatten beide Lenkerinne­n einander nicht rechtzeiti­g sehen können; schuld war aber eindeutig und allein diejenige Fahrerin, die ausgeparkt und dabei den Vorrang des fließenden Verkehrs missachtet hatte.

Vor Schreck Lenkrad verrissen

Die Frauen wurden erst durch das Geräusch des Remplers aufeinande­r aufmerksam; die Seniorin verriss vor Schreck das Lenkrad und verlor die Kontrolle über ihr Auto: Statt zu bremsen, gab sie Gas und raste mit 45 km/h gegen einen Baum auf der anderen Straßensei­te. Von dort prallte das Auto ab und krachte gegen einen zweiten Baum. Die Lenkerin brach sich einen Arm und ein Knie und erlitt eine Brustkorbp­rellung und tiefe Abschürfun- gen am rechten Handrücken. Das Auto hatte einen Totalschad­en.

Die Frau forderte von ihrer Gegnerin Schadeners­atz, wobei sie selbst gleich eine Mithaftung im Ausmaß eines Viertels einräumte. Immerhin war sie zum Zeitpunkt des Unfalls aus pharmakolo­gischtoxik­ologischer Sicht in ihrer Fahrtüchti­gkeit eingeschrä­nkt gewesen. Sie hatte wegen ihres schon zehn Jahre andauernde­n Parkinson-Leidens eine Reihe von Medikament­en eingenomme­n, die laut Beipackzet­teln durchwegs die Fahrtüchti­gkeit einschränk­en konnten.

Das Landesgeri­cht Feldkirch ortete zwar einen Verstoß gegen die Straßenver­kehrsordnu­ng: Nach ihr ist es verboten, ein Auto zu lenken, wenn man dazu körperlich oder geistig nicht in der Lage ist (§ 58/1 StVO). Weil der Lenkerin die Einschränk­ung ihrer Fahrtaugli­chkeit aber nicht bewusst gewe- sen sei, treffe sie kein Verschulde­n. Die beklagte Lenkerin, der Fahrzeugha­lter und dessen Versicheru­ng blieben auch mit ihrem Einwand ungehört, dass die Kollision mit den Bäumen nur so indirekt mit der Primärkoll­ision zusammenhä­nge, dass sie gar nicht mehr der ausparkend­en Lenkerin zuzurechne­n sei: Alle drei Instanzen, auch das Oberlandes­gericht (OLG) Innsbruck und der OGH, sahen den eingetrete­nen (Miss-)Erfolg als „keineswegs atypisch“.

Nicht ganz so einig waren sich die Gerichte aber bei der Mitverantw­ortung der Patientin. Während das OLG die Frau wie das Landesgeri­cht außer obligo sah (abgesehen vom nicht eingeklagt­en Viertel des Schadens), weil ihre Ärzte keine Bedenken gegen ihre Fahrtüchti­gkeit geäußert hatten, nimmt das Höchstgeri­cht eine differenzi­ertere Position ein.

Für den Gerichtsho­f ist noch offen, ob die Frau ein Verschulde­n an der Unkenntnis ihres eingeschrä­nkten Fahrvermög­ens traf. Dazu hält er erstmals allgemein fest, wie sich ein Lenker unter Medikament­eneinfluss verhalten muss: Es treffe ihn die Pflicht, „die für ihn bestimmten Gebrauchsi­nformation­en in den Beipackzet­teln zu lesen“, schreibt der OGH in seinem Urteil (2 Ob 117/16v). „Ergeben sich aus den Gebrauchsi­nformation­en Hinweise auf eine mögliche Einschränk­ung seiner Fahrtüchti­gkeit, obliegt es ihm, Erkundigun­gen beim Arzt oder beim Apotheker einzuholen, sofern nicht ohnedies bereits eine ärztliche Aufklärung erfolgte.“

„Bedenkenlo­s fahrtaugli­ch“

Konkret wurde die Frau von ihrer Vertrauens­ärztin zwar darauf hingewiese­n, dass sie zu Beginn der Medikament­eneinnahme nicht Auto fahren dürfe. Seither gab es aber nie mehr ein Gespräch mit einem Arzt über die Fahrtüchti­gkeit.

Freilich ging das OLG davon aus, dass die Vertrauens­ärztin, wäre sie gefragt worden, der Frau volle Fahrtaugli­chkeit attestiert hätte. Denn das Erstgerich­t hatte festgestel­lt, dass die Ärztin sie für „bedenkenlo­s fahrtaugli­ch“gehalten hatte. Die Beklagtens­eite bestritt diese Feststellu­ng, doch hielt die zweite Instanz die Frage für irrelevant – offenbar deshalb, weil sich ihrer Ansicht nach die Patientin ohnehin nicht hätte erkundigen müssen. Der OGH jedoch sieht eben eine Pflicht, sich „aktiv um eine fachkundig­e Auskunft“zu bemühen. Also muss das OLG jetzt noch klären, was gewesen wäre, hätte die Seniorin sich pflichtgem­äß erkundigt. Bleibt es dabei, dass die Ärztin sie bedenkenlo­s hätte fahren lassen, ist sie nicht mitschuldi­g; andernfall­s aber wäre ihr die Verletzung des § 58/1 StVO vorzuwerfe­n. Laut OGH müsste sie dann ein Drittel ihres Schadens selbst tragen.

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[ APA/AFP/LOIC VENANCE ] Medikament­e können die Verkehrstü­chtigkeit beeinträch­tigen.

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