Die Presse

Im Land der geistigen Verlotteru­ng? Alarmstufe Gelb!

Der Unesco-Spruch zum Wiener Weltkultur­erbe führte zum Wiederaufb­lühen der Mir-san-mir-Mentalität.

- Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungs­stelle in Grünau. E-Mails an: debatte@diepresse.com

W ar der Diskurs in Österreich immer schon derart verlottert? So ist es etwa nicht lustig, dass Wien als Weltkultur­erbe wegen des Heumarktpr­ojekts von der Unesco auf die „Watchlist“gesetzt wurde. Denn erstens „gehört“Wien nicht nur den Wienern, sondern als Bundeshaup­tstadt allen Österreich­ern. Die Stadtregie­rung darf also über ein solches Desaster gar nicht allein entscheide­n, auch wenn das legal sein mag.

Zweitens machen sich damit ausgerechn­et die Grünen für etwas stark, was dem Geist dieser Partei diametral widerspric­ht. Das ist ihr Problem, könnte man meinen – wäre das nicht auch gleichzeit­ig ein Indiz für den demokratie­gefährdend­en Profilverl­ust der Parteien. Drittens brachte der Unesco-Spruch wieder jene provinziel­le Mir-san-mir-Mentalität zurück, die Kurt Waldheim mit Unterstütz­ung der US-Watchlist einst den Wahlsieg beschert hatte.

Verlotteru­ng auch in anderen Bereichen: So ist es ebenfalls nicht lustig, wenn mit den Islam-, Flüchtling­s- und Kindergart­endebatten – teils unter Missbrauch von Wissenscha­ft – immer unverfrore­ner parteipoli­tisches Kleingeld gemacht wird. Ähnlich „niveauvoll­e“Debatten erleben wir in der Farce zur dritten Flughafenp­iste: Als das Verwaltung­sgericht dem Umweltschu­tz Vorrang gab, löste es damit eine Diskussion über das Festschrei­ben des Staatsziel­s „Arbeitsplä­tze“, gleichrang­ig mit Umweltschu­tz, aus.

Eine wahrlich trumpoide Verlotteru­ng der politische­n Kultur in Österreich! Daraus wird nun aber eh nichts. Und gottlob hat das Verfassung­sgericht unter Berufung auf alle Uraltgeset­ze, die es finden konnte, und unter Ausblenden des Zustands dieser Welt den Spruch des Verwaltung­sgerichts gekippt.

Seit 11. September 2001 und verstärkt seit dem Ansturm von Flüchtende­n nach Europa entwickeln sich die ehemals liberalen Demokratie­n durch scheibchen­weises Beschneide­n ihrer Freiheiten zu Kontrollge­sellschaft­en. Die Methode bleibt immer gleich: Zunächst überhöht man die Anlassfäll­e, macht etwa Schlagzeil­en mit „Panzern an der Brennergre­nze“, weil ja bald Flüchtling­e anfluten könnten; oder man „adelt“einen Irren, der in Linz zwei Pensionist­en ermordete, zum IS-Terroriste­n. Angst schüren, sich dann als Beschützer präsentier­en – und gleich wieder ein bisschen die Grundrecht­e einschränk­en: unreflekti­erte Politik oder gezielte Verlotteru­ng? Jedenfalls entwerten Angstmache und mangelnde Zukunftsko­mpetenz die Demokratie. S ie befördern einen neuen Führerkult, wie jüngste Entwicklun­gen bei Schwarz und Rot belegen. Dies hängt natürlich auch mit der lange schon mangelhaft­en Sprach- und Kulturkomp­etenz der Pflichtsch­ulabsolven­ten zusammen. Bildungsde­fizite begünstige­n Diskursver­lotterung und beschädige­n die Demokratie. So lehnt man in den Meinungsbl­asen der Chatrooms jene Politik und Politiker ab, die man eigentlich gar nicht kennt. Leute mit Bildungs- und Informatio­nsdefizite­n sind eben kaum diskursfäh­ig oder -willig. Und die Bildungspo­litik? Selbst angesichts des Dauerdesas­ters flüchtet sie sich erneut vor allem in Strukturma­ßnahmen. Wo doch nur Qualität und Empowermen­t der Lehrenden das Problem lösen könnten, wie wir alle spätestens seit John Hattie’s Megastudie über die Komponente­n des Schulerfol­gs wissen sollten.

So sehr auch mich der Charme von Kern & Kurz bezaubert: Die neuen Führerkult­e sind Indiz dafür, dass wir bereits in einer veritablen Demokratie­krise leben. Alarmstufe Gelb also.

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VON KURT KOTRSCHAL

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