Mittelmeer, Migranten, Fakten
Analyse. Brenner sperren, Fähren stoppen, Retter strafen: Die Minister Kurz und Sobotka preschen mit kantigen Ideen vor. Ihre Umsetzung allerdings ist bei näherem Hinsehen fragwürdig.
Brüssel. Österreichs Minister für Inneres und Äußeres geben in der Frage, wie die Migrationskrise im Mittelmeer zu beherrschen sei, kantige Forderungen zu Protokoll. Sebastian Kurz will abschreckende Auffanglager in Nordafrika gründen und wirft Italien vor, die Migranten „einfach durchzuwinken“. Wolfgang Sobotka spricht gegenüber der „Bild“-Zeitung von Strafen für „selbst ernannte Seenotretter“, die mit den Menschenhändlern in Libyen gemeinsame Sache machen. Die Debatte droht zu engleiten, nicht nur in Italien ist man über den rüden Ton aus dem Norden zusehends verärgert. „Erstens sagt es sich leicht, die Mittelmeerroute schließen, aber wie macht man das?“, erklärte Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Zweitens „werden die wenigsten Anspruch auf Asyl haben, selbst wenn sie es beantragen“.
Wie sieht die Faktenlage aus? Ein näherer Blick auf fünf zentrale Aspekte der Migrantenkrise.
1 Könnte Österreich einfach so die Grenze am Brenner zusperren?
Nein – zumindest nicht nach Lust und Laune. Um Chaos im Schengen-Raum zu verhindern, gibt der Schengener Grenzkodex klare Regeln vor: So „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ist, kann dieser Staat für 30 Tage die Grenze schließen (und dann, für jeweils 30 weitere Tage, bis zum Höchstmaß von sechs Monaten). Er muss das aber den anderen Staaten und der Kommission mindestens vier Wochen vorher mitteilen und schlüssig begründen, wieso dies erforderlich sei.
Bei unmittelbarer Gefahr im Verzug kann der Staat die Grenzen ohne vorherige Ankündigung für Zeiträume von jeweils zehn Tagen mit dem Höchstmaß von zwei Monaten sperren: Das tat Frankreich nach den Pariser Terroranschlägen. Länger (bis zu zwei Jahre) geht das nur in Abstimmung mit den anderen Staaten: So wurden die Kontrollen an Österreichs Grenzen zu Ungarn und Slowenien möglich.
2 Ist es wahr, dass Italien die Migranten nach Österreich durchwinkt?
Außenminister Kurz wird zwar derzeit nicht müde, dies zu behaupten. In den Tatsachen spiegelt sich das aber nicht. Wie „Die Presse“in ihrer Dienstagsausgabe von einem Lokalaugenschein am Brenner berichtete, werden dort derzeit täglich im Durchschnitt nur 15 bis 25 illegale Einwanderer aufgegriffen. Vom Gerücht, Italien wolle angeblich bis zu 200.000 illegale Migranten mit „humanitären Visa“ausstatten und sie in den Rest Europas schicken, mag man halten, was man will. Tatsache ist, dass das rechtswidrig wäre. „Asylwerber dürfen nicht mit Papieren ausgestattet werden, die ihnen erlauben würden, im Schengen-Raum herumzureisen“, betonte eine Sprecherin der Europäischen Kommission am Dienstag. „Das ist von der europäischen Gesetzgebung nicht vorgesehen.“
3 Was brächte es, den Fährverkehr von Italiens Inseln zu stoppen?
Höchstens eine Verlagerung des Problems und eine gefährliche Zu- spitzung der ohnehin prekären Lage auf den italienischen Inseln. 30 Bürgermeister auf Sizilien verweigern bereits die Aufnahme weiterer Migranten. Auf europäischer Ebene findet Kurz’ Forderung nach dem Fährstopp keinen Widerhall: Weder wurde sie von den Innenministern bei ihren jüngsten Treffen in Tallinn und Rom erörtert, noch hat sie Kurz selbst beim Außenministerrat am Montag in Brüssel zur Diskussion gebracht, sagte jemand, der bei dieser Sitzung mithörte, zur „Presse“.
4 Stimmt es, dass die NGOs mit Menschenhändlern paktieren?
Das ist schwer zu beweisen. Vorsätzlich tut dies wohl kaum niemand an Bord der Rettungsschiffe – vor allem, weil sich sein Kapitän dann strafbar machte. Auch dürften nur wenige der Kapitäne es riskieren, in libysche Hoheitsgewässer einzufahren; wo das absichtlich oder unabsichtlich passiert, gab es bereits Warnschüsse der libyschen Küstenwache. Allerdings werden viele der Retter zu unfreiwilligen Helfershelfern der Menschenhändler. Eine Reporterin der „Zeit“ fuhr zwei Wochen mit einem deutschen Rettungsschiff mit und berichtete, dass die Menschenhändler über Softwareprogramme verfolgen, welche Schiffe gerade in der Nähe sind. Sobald ein großes kommt, stechen plötzlich Dutzende Migrantenboote in See.
5 Kann man in Nordafrika Auffanglager für die Migranten bauen?
Nein – und gerade Ägypten, welches Kurz am Montag als Beispiel nannte, illustriert die Unmachbarkeit dieser Idee. Das Land ist wirtschaftlich am Boden, die rastlose Jugend blickt sehnsüchtig nach Europa, islamistische Terroristen treiben ihr Unwesen. Wer sollte hier die Lager sichern? Eine EUPolizeimission wohl kaum. Zudem ist Kurz’ Argument, solche Lager würden „binnen weniger Wochen“kraft ihrer Abschreckungswirkung den Strom von Wirtschaftsmigranten verringern, unlogisch. In Libyens Migrantenlagern herrschen apokalyptische Zustände, einschließlich unbestätigter Berichte über Organhandel. Dennoch scheinen sie kaum einen Wanderwilligen abzuschrecken.