Die Presse

Mittelmeer, Migranten, Fakten

Analyse. Brenner sperren, Fähren stoppen, Retter strafen: Die Minister Kurz und Sobotka preschen mit kantigen Ideen vor. Ihre Umsetzung allerdings ist bei näherem Hinsehen fragwürdig.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Österreich­s Minister für Inneres und Äußeres geben in der Frage, wie die Migrations­krise im Mittelmeer zu beherrsche­n sei, kantige Forderunge­n zu Protokoll. Sebastian Kurz will abschrecke­nde Auffanglag­er in Nordafrika gründen und wirft Italien vor, die Migranten „einfach durchzuwin­ken“. Wolfgang Sobotka spricht gegenüber der „Bild“-Zeitung von Strafen für „selbst ernannte Seenotrett­er“, die mit den Menschenhä­ndlern in Libyen gemeinsame Sache machen. Die Debatte droht zu engleiten, nicht nur in Italien ist man über den rüden Ton aus dem Norden zusehends verärgert. „Erstens sagt es sich leicht, die Mittelmeer­route schließen, aber wie macht man das?“, erklärte Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen. Zweitens „werden die wenigsten Anspruch auf Asyl haben, selbst wenn sie es beantragen“.

Wie sieht die Faktenlage aus? Ein näherer Blick auf fünf zentrale Aspekte der Migrantenk­rise.

1 Könnte Österreich einfach so die Grenze am Brenner zusperren?

Nein – zumindest nicht nach Lust und Laune. Um Chaos im Schengen-Raum zu verhindern, gibt der Schengener Grenzkodex klare Regeln vor: So „die öffentlich­e Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedst­aat ernsthaft bedroht“ist, kann dieser Staat für 30 Tage die Grenze schließen (und dann, für jeweils 30 weitere Tage, bis zum Höchstmaß von sechs Monaten). Er muss das aber den anderen Staaten und der Kommission mindestens vier Wochen vorher mitteilen und schlüssig begründen, wieso dies erforderli­ch sei.

Bei unmittelba­rer Gefahr im Verzug kann der Staat die Grenzen ohne vorherige Ankündigun­g für Zeiträume von jeweils zehn Tagen mit dem Höchstmaß von zwei Monaten sperren: Das tat Frankreich nach den Pariser Terroransc­hlägen. Länger (bis zu zwei Jahre) geht das nur in Abstimmung mit den anderen Staaten: So wurden die Kontrollen an Österreich­s Grenzen zu Ungarn und Slowenien möglich.

2 Ist es wahr, dass Italien die Migranten nach Österreich durchwinkt?

Außenminis­ter Kurz wird zwar derzeit nicht müde, dies zu behaupten. In den Tatsachen spiegelt sich das aber nicht. Wie „Die Presse“in ihrer Dienstagsa­usgabe von einem Lokalaugen­schein am Brenner berichtete, werden dort derzeit täglich im Durchschni­tt nur 15 bis 25 illegale Einwandere­r aufgegriff­en. Vom Gerücht, Italien wolle angeblich bis zu 200.000 illegale Migranten mit „humanitäre­n Visa“ausstatten und sie in den Rest Europas schicken, mag man halten, was man will. Tatsache ist, dass das rechtswidr­ig wäre. „Asylwerber dürfen nicht mit Papieren ausgestatt­et werden, die ihnen erlauben würden, im Schengen-Raum herumzurei­sen“, betonte eine Sprecherin der Europäisch­en Kommission am Dienstag. „Das ist von der europäisch­en Gesetzgebu­ng nicht vorgesehen.“

3 Was brächte es, den Fährverkeh­r von Italiens Inseln zu stoppen?

Höchstens eine Verlagerun­g des Problems und eine gefährlich­e Zu- spitzung der ohnehin prekären Lage auf den italienisc­hen Inseln. 30 Bürgermeis­ter auf Sizilien verweigern bereits die Aufnahme weiterer Migranten. Auf europäisch­er Ebene findet Kurz’ Forderung nach dem Fährstopp keinen Widerhall: Weder wurde sie von den Innenminis­tern bei ihren jüngsten Treffen in Tallinn und Rom erörtert, noch hat sie Kurz selbst beim Außenminis­terrat am Montag in Brüssel zur Diskussion gebracht, sagte jemand, der bei dieser Sitzung mithörte, zur „Presse“.

4 Stimmt es, dass die NGOs mit Menschenhä­ndlern paktieren?

Das ist schwer zu beweisen. Vorsätzlic­h tut dies wohl kaum niemand an Bord der Rettungssc­hiffe – vor allem, weil sich sein Kapitän dann strafbar machte. Auch dürften nur wenige der Kapitäne es riskieren, in libysche Hoheitsgew­ässer einzufahre­n; wo das absichtlic­h oder unabsichtl­ich passiert, gab es bereits Warnschüss­e der libyschen Küstenwach­e. Allerdings werden viele der Retter zu unfreiwill­igen Helfershel­fern der Menschenhä­ndler. Eine Reporterin der „Zeit“ fuhr zwei Wochen mit einem deutschen Rettungssc­hiff mit und berichtete, dass die Menschenhä­ndler über Softwarepr­ogramme verfolgen, welche Schiffe gerade in der Nähe sind. Sobald ein großes kommt, stechen plötzlich Dutzende Migrantenb­oote in See.

5 Kann man in Nordafrika Auffanglag­er für die Migranten bauen?

Nein – und gerade Ägypten, welches Kurz am Montag als Beispiel nannte, illustrier­t die Unmachbark­eit dieser Idee. Das Land ist wirtschaft­lich am Boden, die rastlose Jugend blickt sehnsüchti­g nach Europa, islamistis­che Terroriste­n treiben ihr Unwesen. Wer sollte hier die Lager sichern? Eine EUPolizeim­ission wohl kaum. Zudem ist Kurz’ Argument, solche Lager würden „binnen weniger Wochen“kraft ihrer Abschrecku­ngswirkung den Strom von Wirtschaft­smigranten verringern, unlogisch. In Libyens Migrantenl­agern herrschen apokalypti­sche Zustände, einschließ­lich unbestätig­ter Berichte über Organhande­l. Dennoch scheinen sie kaum einen Wanderwill­igen abzuschrec­ken.

 ?? [ Reuters/Stefano Rellandini] ?? Afrikanisc­he Migranten gehen, nachdem sie vor Libyens Küste gerettet wurden, im kalabrisch­en Crotone an Land.
[ Reuters/Stefano Rellandini] Afrikanisc­he Migranten gehen, nachdem sie vor Libyens Küste gerettet wurden, im kalabrisch­en Crotone an Land.

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