„Zuversichtlich, dass Ceta Erfolg haben wird“
Interview. Der kanadische Premierminister, Justin Trudeau, über die Beziehung zu Donald Trump, die Unruhen beim G20-Gipfel und das Freihandelsabkommen Ceta als Symbol gegen Nationalismus.
Die Presse: Viele Europäer blicken mit gestiegenem Interesse auf Kanada. Das hat etwas mit Ihnen zu tun, aber auch mit den Entwicklungen in den USA. Kanada wird als verlässlicher Partner gesehen – das Gegenteil von dem, was viele über die USA denken. Und sie erwarten, dass Kanada mehr Verantwortung in der Welt übernimmt. Ist das für Sie eine Belastung? Justin Trudeau: Die Reaktion, die wir international bekommen, ist sehr positiv für mich. Ich konzentriere mich darauf, die Werte und Ansichten der Kanadier hervorzuheben und darzustellen. Kanada und die Kanadier haben sich nicht sehr verändert, als die Regierung vor zwei Jahren wechselte. Kanadier waren immer aufmerksam, interessiert, sich in der Welt zu engagieren. Ich habe nicht das Gefühl, etwas anderes getan zu haben, als Kanadiern die Gelegenheit zu geben, so gesehen zu werden, wie sie immer auf der Weltbühne auftraten.
Trägt Kanada nun nicht mehr Verantwortung in den internationalen Beziehungen, militärisch oder in der Entwicklungshilfe? Wir sind ein Land von mittlerem Gewicht, das auf unterschiedliche Arten großen Einfluss haben kann. Aber wir werden nie das Gewicht von ökonomisch viel größeren Ländern haben. Kanada hat immer auf das geachtet, was wir besonders gut können. Ein Beispiel sind unsere starken Beziehungen mit dem frankophonen Afrika wegen unserer Französisch sprechenden Bevölkerung. Wir haben eine starke Expertise in Fragen der Zivilgesellschaft, von Recht und Gesetz, und wir engagieren uns in der Welt.
US-Medien zeichneten Sie sehr früh im US-Wahlkampf als Anti-Trump, und dieses Bild haben viele in Europa aufgegriffen. Abgesehen davon, dass Sie beide Arbeitsplätze für die Mittelschicht schaffen wollen, sind Trump und Sie sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Wie gehen Sie mit Donald Trump um? Ich möchte nicht die Tatsache herunterspielen, dass der Kern unseres ökonomischen Ansatzes der Gleiche ist wie seiner. Wir bei- de wollen Arbeitsplätze und Chancen für die Mittelklasse schaffen. Das ist die große Herausforderung für so viele entwickelte Volkswirtschaften. Dass die Wachstumsstrategie, die wir in den vergangenen Jahrzehnten hatten, den wenigen nutzte und nicht den vielen – einem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung, nicht der Mittelschicht und denen, die zu ihr aufschließen wollen. Hier eine gemeinsame Grundlage zu haben hilft sehr beim Umgang mit dem US-Präsidenten. Der andere Aspekt ist die Art der Beziehung zwischen Kanada und den USA, die wie keine andere Beziehung zwischen zwei Ländern ist. Wir sind so sehr miteinander verbunden, dass das viele Möglichkeiten für eine konstruktive Beziehung eröffnet.
Sie bezeichnen sich selbst als Feministen und heißen Flüchtlinge willkommen. Sie sind gegen das Errichten von Mauern. In jedem dieser Punkte repräsentieren Sie genau das Gegenteil von Trump. Ist es da möglich, mehr als nur eine gute Ar-
beitsbeziehung aufzubauen? So etwas wie Vertrauen? Jede Führungsperson eines Landes respektiert das Recht einer anderen Führungsperson, seinem eigenen Land so zu dienen, wie es die Bürger seines Landes erwarten. Es geht nicht um Schwierigkeiten auf persönlicher Ebene. Dass ich für unsere Interessen und Werte einstehe und zur gleichen Zeit eine konstruktive Arbeitsbeziehung mit den USA habe, ist weder für US-Amerikaner noch für Kanadier eine Überraschung. Das erwarten Kanadier von ihrer Regierung: Mit anderen klarzukommen und fest zu unseren Überzeugungen zu stehen.
Beim G20-Gipfel in Hamburg arbeiteten Sie eng mit der deutschen Kanzlerin, Angela Merkel, zusammen. Aber am Ende schien das Gipfel-Kommunique´ schwach zu sein, mit Schlupflöchern beim Freihandel und nur 18 oder 19 Ländern, die das Pariser Klimaabkommen unterstützen. War der G20-Gipfel ein Fehlschlag? Nein, G20 war ein Erfolg. Erinnern Sie sich an die Sorgen, die jeder hatte, bevor er in das Treffen ging: Dass es gewaltige Spaltungen geben wird, dass einige Länder in die eine und andere in eine andere Richtung gehen werden und wir zu keinem Konsens bei vielen wichtigen Themen kommen werden. Aber wir kamen zu einem starken Kommunique.´ Dass die USA klargemacht haben, dass sie dem Pariser Klimaabkommen nicht folgen werden, kann man nicht dem G20- oder dem G7-Treffen anlasten, das wir zuvor hatten. Das war eine Entscheidung der USA.
Waren Sie von den Krawallen rund um den Gipfel überrascht? Ich sage es seit Langem: Es gibt Ängste und sogar Frustrationen bei den Bürgern draußen, die nicht das Gefühl haben, dass ihnen ihre Regierungen und die globalen Entscheidungsträger gut dienen. Es ist äußerst wichtig, dass wir in den G20 und anderswo diese Sorgen beherzigen, dass wir verste- hen, dass diese Menschen darüber verärgert sind, dass Wachstum nicht fair verteilt wurde und nicht jedem eine faire und reale Chance auf Erfolg gibt. Politiker aus allen Ländern und jeder Couleur wären weise, wenn sie auf die Frustration, die sich in den Protesten äußert, hörten und sich sogar bemühten, sie zu verstehen.
Was bleibt nach dem G20-Gipfel vom „Westen“ohne die USA als Führungskraft? Welche Rolle haben Kanada oder Deutschland und Frankreich zu spielen? Deutschland spielt eine wichtige Rolle in Europa und global, Frankreich verstärkt sein Engagement, und Kanada sieht sich weiter in einer wichtigen Rolle, moderat, aber wichtig. Wir sollten aber nicht nur auf Länder und Regierungen schauen: Die Bürger zeigen, dass sie verstehen, wie vernetzt die Welt heute ist, dass man nicht in seiner kleinen Ecke in der Welt sitzen und seine Verantwortung für Entwicklungen auf der anderen Seite der Welt ignorieren kann. Es ist dieses Bewusstsein, sich zu engagieren, um Lösungen zu finden – sei es durch Entwicklung, sei es durch Antwort auf Migration, sei es durch Konfliktbekämpfung und Stabilisierung von gescheiterten Staaten. Ich glaube, die Bürger verstehen, dass wir alle eine Rolle spielen, um eine bessere Zukunft für jeden zu schaffen.
Kanzlerin Merkel und auch Ihre Außenministerin, Chrystia Freeland, haben gesagt, dass wir nicht mehr wie in der Vergangenheit auf die USA bauen können. Wenn wir auf die Geschichte der USA blicken, dann gibt es Momente des Engagements in der Welt und Momente eines stärker protektionistischen oder nationalistischen Denkens, und dieser Wandel vollzieht sich von Zeit zu Zeit. Wir gehen nun durch eine Phase, in der sich die USA unter der jetzigen Regierung etwas stärker nach innen wenden oder sich zumindest auf das konzentrieren, was der Präsident „America first“nennt. Für andere Länder öffnet dies Gelegenheiten und die Verantwortung, weiter über das globale Bild nachzudenken.
Wird das ein Schwerpunkt Ihrer G7-Präsidentschaft in den kommenden zwölf Monaten sein? Wir sind noch dabei, unser Programm festzulegen. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass inklusives Wachstum, Wachstum für die Mittelschicht und sicherzustellen, dass jeder eine reale, faire Chance auf Erfolg hat, im Zentrum stehen werden. Ein starkes Gewicht wird auch auf Fragen der Gleichberechtigung liegen, darauf, dass Frauen Zugang zu Arbeitsplätzen, Erfolg und Einfluss haben. Nicht nur weil das richtig, sondern auch, weil es klug ist.
Es besteht Unsicherheit, ob das kanadisch-europäische Handelsabkommen Ceta von den Europäern unterzeichnet wird. Was bedeutet Ceta für die Partnerschaft zwischen der EU und Kanada? Ein progressives Handelsabkommen ermöglicht Handel und Wachstum. Dass wir uns auf Chancen für kleine Unternehmen, den Schutz von Arbeitnehmerrechten und den Schutz der Umwelt fokussieren, wird spürbaren Nutzen für die ganze Gesellschaft bringen. Darüber hinaus gibt es auch einen symbolischen Erfolg: Dass wir ein umfassendes Handelsabkommen zu einem Zeitpunkt unterzeichnen, an dem Befürchtungen hinsichtlich Protektionismus, Populismus und Globalisierung bestehen. Dass wir zeigen, dass wir die Fähigkeit haben, positiv zusammenzuarbeiten, ist ein sehr wichtiges Symbol. Gerade in Zeiten, in denen Menschen Angst haben wegen ihrer Zukunft und der Zukunft ihrer Kinder. Zu zeigen, dass Regierungen über nationale und kontinentale Grenzen hinweg zusammenarbeiten können, um diese Ängste zu zerstreuen, ist eine sehr mächtige Botschaft.
Und wenn Ceta doch noch scheitert? Kanada ist in vielen Verhandlungen engagiert. Wir werden in diesem Herbst die Neuverhandlung und Genehmigung von Nafta (des nordamerikanischen Freihandelsabkommens, Anm.) haben. Ich bin sehr zuversichtlich, dass Ceta, das ein gutes Abkommen für Europa und Kanada ist, Erfolg haben wird.
Kanada feiert heuer das 150. Jahr seines Bestehens. Wie lautet heute Kanadas Botschaft an die Welt? Ich bin davon überzeugt, dass Vielfalt eine Quelle von Stärke sein kann, nicht von Schwäche. Wir waren in der Lage, eine starke, reiche, widerstandsfähige Gesellschaft aufzubauen trotz einiger fundamentaler Widersprüche, etwa im Verhältnis der anglophonen zur frankophonen Bevölkerung, der indigenen Bewohner zu den Neu-Kanadiern. All diese Unterschiede waren in unserer Vergangenheit Verwerfungslinien. Aber wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir verstehen, dass unterschiedliche Geschichten und Hintergründe, Ansichten und Identitäten einander ergänzen und zur Lösung von Problemen beitragen.