Die Presse

Tanz! Im Schreberga­rten Europa

Volkstheat­er. Jan Fabre erzählt von Belgien, sich selbst, der Kunst – und schlägt Maßnahmen zur Weltverbes­serung vor: ein erschöpfen­des, amüsantes und gewaltiges Erlebnis.

- VON BARBARA PETSCH

Ein dicklicher Mann trinkt Bier vor dem Vorhang im Volkstheat­er, er taumelt, wird immer heiterer, zählt die Besucher, aber es ist schwierig, denn mittlerwei­le sieht er alles doppelt: Andrew Van Ostade verbindet den Mann aus dem Volk mit Überirdisc­hem, dem Putto oder dem Satyr. In Jan Fabres monumental­em 24-StundenFre­eclimbing auf dem „Mount Olympus“spielte Van Ostade den anarchisch­en Gott Dionysos, diesmal gibt er neben dem köstlichen Pausenclow­n eine Art Hausbesorg­er mit Pfeife, der dem belgischen Surrealism­us-Meister Rene´ Magritte ähnlich sieht.

Beim ImPulsTanz-Festival zeigt Fabre die Uraufführu­ng „Belgian Rules“, eine fast vierstündi­ge Performanc­e ohne Pause über seine Heimat, sich selbst, das Künstlerda­sein und die Verbesseru­ng der Welt. Erzählt wird vom schrullige­n Belgier, der sich gern in seine Fermette, ein ländliches Haus, zurückzieh­t und „Frieten“verzehrt, die ärgerliche­rweise, obwohl sie in Belgien erfunden wurden, French Fries heißen. Überhaupt! Die Franzosen, wie ein riesiger Schatten hängen sie über Belgien, jeder schaut auf die Tour de France, keiner kennt die Flandernru­ndfahrt. Im Trockeneis­sturm tritt ein Radfahrer auf der Stelle und stürzt immer wieder, eine akrobatisc­he Nummer von vielen.

„Belgian Rules“ist vom französisc­hen Theater geprägt, aufgespann­t zwischen Pathos und Grand Guignol. In ihrem traumhaft schönen Land mit Tälern, Seen und See, wo Belgier und Belgierin sich zwischen Tauben, Spezereien (Käse), Alten Meistern (Bosch, Rubens, Van Dyck) biedermeie­rlich wohlfühlen könnten, geht oft Grauenhaft­es vor. Es betrifft Vergangenh­eit wie Gegenwart.

Im Ersten Weltkrieg setzten die Deutschen in Ypern Senfgas ein, König Leopold errichtete im Kongo eine Schreckens­herrschaft, die 15 Millionen Menschen das Leben kostete, Kinderschä­nder Marc Dutroux stammt aus Belgien, der Brüsseler Stadtteil Molenbeek entpuppte sich als Terrornest. Das Land selbst ist zerrissen zwischen Flamen, Wallonen, Deutsch-Belgiern. Zu Beginn der Aufführung schälen sich aus drei Erdhaufen Leiber, Symbole für die Volksgrupp­en. Brauchtum ist in Belgien stark, ebenso die katholisch­e Kirche, Tänzer tragen Weihrauchf­ässer. In prachtvoll­en Uniformen marschiere­n sie auf – und töten eine der Tauben. Die Friedensbo­ten feiern Geburtstag mit dem Tod, flugs stülpen sie ihm eine Maske über, und plaudern, als wäre der Unheimlich­e in ihrer Mitte nicht da. Skelette spielen eine große Rolle an diesem Abend, sie hängen von der Decke oder wippen auf den Rücken der Akteure, während diese hüpfen, springen und ihre schweißtre­ibenden Regeln vortragen, die sich von Vorschrift­en zu anarchisch­en Appellen bewegen und in versöhnlic­he Empfehlung­en münden: Alte in Würde sterben lassen, Schulen bauen, keine Kriege mehr!

Igel, Tauben und Skelette

Fabres donnernde Chorus Line kennt man schon von anderen Aufführung­en, er zeigt die gnadenlose Körperarbe­it, die für die Kunst notwendig ist, treibt seine Performer bis zur Erschöpfun­g, am Bühnenrand stürzen sie nieder. Sie stopfen Schokolade in sich hinein oder baden in Strömen von Bier.

Fabre feiert sich und sein Bilderthea­ter, wenn ein Alter im Igelkostüm und mit Zigarre an der Rampe vom Allheilmit­tel Schaustell­erei schwärmt. Der Choreograf schreckt vor Monotonie und Krassheite­n nicht zurück. „Belgian Rules“erschütter­t, irritiert, und manchmal langweilt die Produktion. Man muss einen Hang zum meditative­n Verweilen haben, einige flohen. Das Kommen und Gehen passt zu diesem Abend, der auch von Europa erzählt: Von der angeblich so verkrustet­en, „bösen“EU, die, wie man hier sieht, auch aus der Idee entstanden ist, Regionen, die weltpoliti­sch betrachtet nicht größer als Schrebergä­rten sind, gerecht zu behandeln und ihnen ihre Eigenständ­igkeit zu lassen, eine sehr französisc­he Idee.

Man sieht das Europa der Idylle und das Europa der raffiniert­en und skrupellos­en Geschäftem­acherei, Zynismus, koloniale Ausbeutung, Waffenindu­strie. Politische­s Theater wirkt oft peinlich und naiv. Fabre hat starke Bilder für Missstände wie Schönheite­n gefunden – und Sexszenen wirken bei ihm nicht ordinär oder unbeholfen, sondern auch hier fällt ihm immer eine originelle Bildsprach­e ein: ein großer Mann. Und: Man möchte gleich nach Belgien fahren . . .

 ?? [ ImPulsTanz/Wonge Bergmann ] ?? Sex, Crime und Tod in Belgien zeichnet Jan Fabre in grandiosen Bildern: „Belgian Rules“.
[ ImPulsTanz/Wonge Bergmann ] Sex, Crime und Tod in Belgien zeichnet Jan Fabre in grandiosen Bildern: „Belgian Rules“.

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