Jede Stimme zählt. Aber sie muss sich auch äußern können
Gutes Theater auf der einen und gute Schule auf der anderen Seite sind Indikatoren dafür, dass in einem Gemeinwesen lebendige Demokratie funktioniert.
. . . und wer da allein vor seinem PC hockt, klinkt sich am liebsten im Shitstorm ein, der stets in eine Richtung wütet.
Vor einer Woche hielt der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann am „NZZ“-Podium BadenWürttemberg in Stuttgart ein außerordentlich bemerkenswertes Referat zum Thema „Demokratie“, das gekürzt in der „Neuen Zürcher Zeitung“nachzulesen war. Wie es sich für einen von der Literatur kommenden Referenten geziemt, verband Hürlimann raffiniert die Entstehung der Demokratie in Griechenland mit dem dort gepflegten Theater. Aber seine Betrachtungen zur Demokratie gingen weit darüber hinaus und verdienen, an dieser Stelle bedacht zu werden:
Der zentrale Satz über das Wesen von Demokratie in Hürlimanns Rede lautet: „Demokratie ist nur in ihrer Zerfallsform eine Diktatur des Mittelmaßes und der Mehrheit, wie Nietzsche gehöhnt hat; in ihren Anfängen und in ihren besten Momenten ist sie eine politische Organisationsform, die von klugen, auf eine selbstständige Haltung bedachten Einzelnen getragen wird.“
An anderer Stelle sagt Hürlimann: „Das Wichtigste ist nicht die fixe Antwort, das Wichtigste ist: dass die möglichen Antworten diskutiert werden, und zwar alle, ohne jeden Ausschluss. In einer Demokratie, heißt es so schön, zählt jede Stimme. Richtig. Deshalb muss sie sich auch äußern können.“
Dies ist der entscheidende Punkt, der von jenen zuweilen übersehen wird, die allein den Prozess der Stimmabgabe als Kern der Demokratie betrachten, der sich im bloßen Zählen von Stimmen und dem Feststellen von Mehrheiten ausdrückt. In Wahrheit ereignet sich lebendige Demokratie jenseits dessen: Sie braucht die mündige Person, die im unentwegten Abwägen von Argumenten das Finden, aber auch das Revidieren von Entscheidungen mit ihrer Stimme beeinflusst.
Dieses freie Spiel zwischen dem Einzelnen und der großen Menge – Hürlimann sieht es im klassischen Theater im Spiel zwischen den einzelnen Schauspielern und dem Chor symbolisiert – ist notwendig, wenn ein Gemeinwesen auf Demokratie setzt. Im gegenwärtigen Verfall des Theaters sieht Hürlimann eine be- merkenswerte Parallele zur Gefährdung von gelingender Demokratie: „1981 hat Vladimir Nabokov geschrieben, Shakespeares ,Hamlet‘ sei ein hochmodernes Stück, denn ,wie in allen dekadenten Demokratien kranken sie im Dänemark des Stücks an Schwatzsucht‘. Alle sind betroffen, alle schwätzen, am Schluss sind alle tot. Dänemark ist heute überall. Talkshows und Zeitungskommentare wenden sich nur selten an den mündigen Bürger, und wer da allein vor seinem PC hockt, klinkt sich am liebsten im Shitstorm ein, der stets in eine Richtung wütet.“
In die gleiche Kerbe schlug am vergangenen Dienstag Kurt Kotrschal mit seiner „Presse“-Kolumne, die er mit der Frage überschrieb: „War der Diskurs in Österreich immer schon derart verlottert?“Anhand vieler Beispiele unausgegorener und dubioser Entscheidungen diagnostiziert er eine „Krise der Demokratie“und verortet ihren Ursprung im Versagen der Schule: „Leute mit Bildungs- und Informationsdefiziten sind eben kaum diskursfähig oder -willig.“
Es gibt derer zu viele, und Kurt Kotrschal ist zuzustimmen: Bloße Strukturmaßnahmen sind in der Bildungspolitik ungenügende Ersatzhandlungen – genauso ungenügend wie die Hoffnung, alle Defizite im Sesselkreis mit sanft tönenden Wortschöpfungen einfühlsamer Pseudopädagogik magisch zum Verschwinden bringen zu können.
Demokratie konnte im antiken Griechenland nicht allein deshalb erfunden werden, weil die Griechen das Theater als Dialog des Einzelnen mit dem Chor kannten und damit die Form der demokratischen Auseinandersetzung zu symbolisieren verstanden, sondern auch deshalb, weil die Griechen die Schule erfanden, in der die Einzelnen zum Erheben ihrer Stimme befähigt wurden. Im Sinne von Hürlimann und Kotrschal sind das Bestehen von gutem Theater auf der einen Seite und von guter Schule auf der anderen Seite Indikatoren dafür, dass im Gemeinwesen Demokratie funktioniert.