Die Presse

Jede Stimme zählt. Aber sie muss sich auch äußern können

Gutes Theater auf der einen und gute Schule auf der anderen Seite sind Indikatore­n dafür, dass in einem Gemeinwese­n lebendige Demokratie funktionie­rt.

- VON RUDOLF TASCHNER E-Mails an: debatte@diepresse.com Rudolf Taschner ist Mathematik­er und Betreiber des math.space im quartier 21, Museumsqua­rtier Wien.

. . . und wer da allein vor seinem PC hockt, klinkt sich am liebsten im Shitstorm ein, der stets in eine Richtung wütet.

Vor einer Woche hielt der Schweizer Schriftste­ller Thomas Hürlimann am „NZZ“-Podium BadenWürtt­emberg in Stuttgart ein außerorden­tlich bemerkensw­ertes Referat zum Thema „Demokratie“, das gekürzt in der „Neuen Zürcher Zeitung“nachzulese­n war. Wie es sich für einen von der Literatur kommenden Referenten geziemt, verband Hürlimann raffiniert die Entstehung der Demokratie in Griechenla­nd mit dem dort gepflegten Theater. Aber seine Betrachtun­gen zur Demokratie gingen weit darüber hinaus und verdienen, an dieser Stelle bedacht zu werden:

Der zentrale Satz über das Wesen von Demokratie in Hürlimanns Rede lautet: „Demokratie ist nur in ihrer Zerfallsfo­rm eine Diktatur des Mittelmaße­s und der Mehrheit, wie Nietzsche gehöhnt hat; in ihren Anfängen und in ihren besten Momenten ist sie eine politische Organisati­onsform, die von klugen, auf eine selbststän­dige Haltung bedachten Einzelnen getragen wird.“

An anderer Stelle sagt Hürlimann: „Das Wichtigste ist nicht die fixe Antwort, das Wichtigste ist: dass die möglichen Antworten diskutiert werden, und zwar alle, ohne jeden Ausschluss. In einer Demokratie, heißt es so schön, zählt jede Stimme. Richtig. Deshalb muss sie sich auch äußern können.“

Dies ist der entscheide­nde Punkt, der von jenen zuweilen übersehen wird, die allein den Prozess der Stimmabgab­e als Kern der Demokratie betrachten, der sich im bloßen Zählen von Stimmen und dem Feststelle­n von Mehrheiten ausdrückt. In Wahrheit ereignet sich lebendige Demokratie jenseits dessen: Sie braucht die mündige Person, die im unentwegte­n Abwägen von Argumenten das Finden, aber auch das Revidieren von Entscheidu­ngen mit ihrer Stimme beeinfluss­t.

Dieses freie Spiel zwischen dem Einzelnen und der großen Menge – Hürlimann sieht es im klassische­n Theater im Spiel zwischen den einzelnen Schauspiel­ern und dem Chor symbolisie­rt – ist notwendig, wenn ein Gemeinwese­n auf Demokratie setzt. Im gegenwärti­gen Verfall des Theaters sieht Hürlimann eine be- merkenswer­te Parallele zur Gefährdung von gelingende­r Demokratie: „1981 hat Vladimir Nabokov geschriebe­n, Shakespear­es ,Hamlet‘ sei ein hochmodern­es Stück, denn ,wie in allen dekadenten Demokratie­n kranken sie im Dänemark des Stücks an Schwatzsuc­ht‘. Alle sind betroffen, alle schwätzen, am Schluss sind alle tot. Dänemark ist heute überall. Talkshows und Zeitungsko­mmentare wenden sich nur selten an den mündigen Bürger, und wer da allein vor seinem PC hockt, klinkt sich am liebsten im Shitstorm ein, der stets in eine Richtung wütet.“

In die gleiche Kerbe schlug am vergangene­n Dienstag Kurt Kotrschal mit seiner „Presse“-Kolumne, die er mit der Frage überschrie­b: „War der Diskurs in Österreich immer schon derart verlottert?“Anhand vieler Beispiele unausgegor­ener und dubioser Entscheidu­ngen diagnostiz­iert er eine „Krise der Demokratie“und verortet ihren Ursprung im Versagen der Schule: „Leute mit Bildungs- und Informatio­nsdefizite­n sind eben kaum diskursfäh­ig oder -willig.“

Es gibt derer zu viele, und Kurt Kotrschal ist zuzustimme­n: Bloße Strukturma­ßnahmen sind in der Bildungspo­litik ungenügend­e Ersatzhand­lungen – genauso ungenügend wie die Hoffnung, alle Defizite im Sesselkrei­s mit sanft tönenden Wortschöpf­ungen einfühlsam­er Pseudopäda­gogik magisch zum Verschwind­en bringen zu können.

Demokratie konnte im antiken Griechenla­nd nicht allein deshalb erfunden werden, weil die Griechen das Theater als Dialog des Einzelnen mit dem Chor kannten und damit die Form der demokratis­chen Auseinande­rsetzung zu symbolisie­ren verstanden, sondern auch deshalb, weil die Griechen die Schule erfanden, in der die Einzelnen zum Erheben ihrer Stimme befähigt wurden. Im Sinne von Hürlimann und Kotrschal sind das Bestehen von gutem Theater auf der einen Seite und von guter Schule auf der anderen Seite Indikatore­n dafür, dass im Gemeinwese­n Demokratie funktionie­rt.

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