Der Weg übers Meer nach Europa
Mittelmeerroute. Italien verzeichnet neue Rekordzahlen von Migranten, die von Nordafrika nach Europa übersetzen. Woher stammen diese Menschen und warum flüchten sie?
Wien/Rom. Noch nie zuvor in diesem Jahrhundert haben so viele Menschen die lebensgefährliche Überfahrt von Afrika über das zentrale Mittelmeer nach Europa gewagt. Die Meeresreise von Libyen nach Italien überlebten heuer 85.000 Menschen, die in Italien strandeten – das sind 20 Prozent mehr als zum selben Zeitpunkt vor einem Jahr. Tausende kamen allein im Juli in Italien an. Ein trauriger Rekord stellt auch die Anzahl der Opfer dar: 2359 Menschen sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) heuer im Mittelmeer ertrunken.
Übers Mittelmeer kommen vor allem junge Männer aus Westafrika (75 Prozent) – wobei die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen stark steigt (15 Prozent). Laut den italienischen Behörden handelt es sich bei bis zu 85 Prozent der illegalen Einwanderer um „Wirtschaftsmigranten“. Für Schlepper ist das ein Milliardengeschäft.
Während die österreichische Innenpolitik die „Mittelmeerkrise“samt Szenario einer „Flüchtlingsflut über den Brenner“heuer als Wahlkampfthema für sich entdeckt hat, sind Forderungen nach Schließung der Route in Italiens Innenpolitik kein Novum: Die Lega etwa fordert seit Jahren eine „Blockade“und schlug gar vor, auf Migrantenboote zu schießen. Doch warum fliehen diese Menschen und wie kommen sie in die EU?
Herkunftsländer
Fünf Länder führten im Juni die Statistik an:
Nigeria. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas erlebt im Nordosten eine dramatische Hungerkrise. Der Kampf gegen die Terrorsekte Boko Haram hat zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Schon gibt es Stimmen, die vor einer neuen Massenflucht nach Europa warnen. Noch aber stammen die meisten Migranten aus anderen Landesteilen, laut IOM vornehmlich aus den südlichen Bundesstaaten Edo und Delta.
Dort forciert eine Gemengelange die Flucht nach Europa, die sich auch in anderen afrikanischen Staaten beobachten lässt: Die Arbeitslosigkeit ist groß, junge Menschen sehen keine Perspektive. Die Ölpreiskrise hat die Lage in der von Erdöl abhängigen Volkswirtschaft verschärft. Hinzu kommt, dass viele Nigerianer aus diesen Regionen Verwandte in Europa haben – Edos Hauptstadt BeninStadt lebt seit Jahrzehnten von den Überweisungen aus Europa. Das schürt Hoffnungen – und Schlepper nutzen diesen Umstand aus.
Bangladesch. Stark angestiegen sind die Flüchtlingszahlen aus dem südasiatischen Land. Das liegt zum einen an der chaotischen Lage auf der anderen Seite des Mittelmeers: Mehr als 40 Prozent der in Italien gelandeten Bangladeschis sagten laut IOM, dass sie ursprünglich als Arbeitskräfte nach Libyen gehen wollten. Nun hat der Konflikt sie in die Flucht getrieben. Zum anderen ist die hohe Zahl laut der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex auf neue Gesetze der Golfstaaten zurückzuführen, mit denen sie den Zugang zum Arbeitsmarkt für Bangladeschis beschränkt haben.
Guinea. Trotz seines großen Ressourcenreichtums zählt Guinea zu den ärmsten Ländern der Welt: 70 Prozent der Menschen leben von weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Die Ebola-Krise hat die ohnehin Wirtschaft weiter geschwächt. Politisch gilt das Land seit der Wahl von Alpha Conde´ trotz ethnischer Spannungen aber als relativ stabil. Gleiches gilt für die Cote D’Ivoire, seit der Konflikt um den Sieg von Alassane Ouattara bei der Präsidentenwahl beigelegt wurde. Auch hier gilt als Fluchtgrund: Zukunftsängste, Perspektivlosigkeit.
Gambia. Das Land an der westafrikanischen Küste zählt mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern zu den kleinsten Staaten Afrikas. Armut (mehr als die Hälfte der Gambier lebt unterhalb der Armutsgrenze) gepaart mit einer brutalen Diktatur unter Langzeit-Herrscher Yaya Jammeh trieb viele junge Menschen aus dem Land. Seit Jänner hat sich die politische Lage geändert: Ein Militäreinsatz westafrikanischer Staaten zwang Jammeh nach der Wahlniederlage 2016 ins Exil. Ob sich die Lage unter den neuen Präsidenten Adama Barrow bessern wird, ist noch unklar. Viele Flüchtlinge, die nun aus Gambia in Europa ankommen, sind allerdings seit Monaten, manchmal seit Jahren, unterwegs – vor dem Wechsel in ihrer Heimat.
Transit
Die Fluchtroute verläuft meist über Niger und führt durch die Sahara. Bereits bei der beschwerlichen Reise durch die Wüste sterben viele Menschen. Hauptabfahrtsort Richtung Europa ist Libyen. Die chaotische Lage in dem Land befeuert das Schlepperwesen. Oft arbeiten Milizen und Menschenschmuggler zusammen. Das deutsche Außenamt sprach von „KZ-ähnlichen Zuständen“in den Auffanglagern für Flüchtlinge. Zur Zeit des Machthabers Muammar al-Gaddafi kamen zwar phasenweise weniger Migranten über das Mittelmeer, weil er die Menschen von der Überfahrt abhielt. Zum Teil aber zu einem hohen Preis: Die Situation in den Lagern für Flüchtlinge war ähnlich verheerend wie heute. Dazu kamen Berichte, dass Migranten in der Wüste ausgesetzt wurden.
Italien
Die Bootsflüchtlinge aus Libyen kommen alle nach Süditalien. Denn die meisten werden von Schiffen der italienischen Küstenwache sowie Frontex gerettet – deren Mandat sieht vor, die Migranten nach Italien zu bringen. Bis vor Kurzem wurden vor allem sizilianische Häfen angefahren (inklusive Lampedusa). Doch die Aufnahmekapazitäten auf der Insel sind erschöpft, daher werden die „BoatsPeople“nun auch nach Sardinien und ans Festland, nach Kampanien, Apulien und Kalabrien gebracht. Italiens Regierung weiß nicht mehr, wo sie die Migranten unterbringen soll: 2015 sprach das Innenministerium von maximal 100.000 Plätzen, bis Ende 2017 dürften viermal so viele in Flüchtlingszentren untergebracht sein.