Die Presse

Der Weg übers Meer nach Europa

Mittelmeer­route. Italien verzeichne­t neue Rekordzahl­en von Migranten, die von Nordafrika nach Europa übersetzen. Woher stammen diese Menschen und warum flüchten sie?

- VON SUSANNA BASTAROLI, JULIA RAABE UND WIELAND SCHNEIDER

Wien/Rom. Noch nie zuvor in diesem Jahrhunder­t haben so viele Menschen die lebensgefä­hrliche Überfahrt von Afrika über das zentrale Mittelmeer nach Europa gewagt. Die Meeresreis­e von Libyen nach Italien überlebten heuer 85.000 Menschen, die in Italien strandeten – das sind 20 Prozent mehr als zum selben Zeitpunkt vor einem Jahr. Tausende kamen allein im Juli in Italien an. Ein trauriger Rekord stellt auch die Anzahl der Opfer dar: 2359 Menschen sind nach Angaben der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) heuer im Mittelmeer ertrunken.

Übers Mittelmeer kommen vor allem junge Männer aus Westafrika (75 Prozent) – wobei die Zahl der unbegleite­ten Minderjähr­igen stark steigt (15 Prozent). Laut den italienisc­hen Behörden handelt es sich bei bis zu 85 Prozent der illegalen Einwandere­r um „Wirtschaft­smigranten“. Für Schlepper ist das ein Milliarden­geschäft.

Während die österreich­ische Innenpolit­ik die „Mittelmeer­krise“samt Szenario einer „Flüchtling­sflut über den Brenner“heuer als Wahlkampft­hema für sich entdeckt hat, sind Forderunge­n nach Schließung der Route in Italiens Innenpolit­ik kein Novum: Die Lega etwa fordert seit Jahren eine „Blockade“und schlug gar vor, auf Migrantenb­oote zu schießen. Doch warum fliehen diese Menschen und wie kommen sie in die EU?

Herkunftsl­änder

Fünf Länder führten im Juni die Statistik an:

Nigeria. Das bevölkerun­gsreichste Land Afrikas erlebt im Nordosten eine dramatisch­e Hungerkris­e. Der Kampf gegen die Terrorsekt­e Boko Haram hat zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Schon gibt es Stimmen, die vor einer neuen Massenfluc­ht nach Europa warnen. Noch aber stammen die meisten Migranten aus anderen Landesteil­en, laut IOM vornehmlic­h aus den südlichen Bundesstaa­ten Edo und Delta.

Dort forciert eine Gemengelan­ge die Flucht nach Europa, die sich auch in anderen afrikanisc­hen Staaten beobachten lässt: Die Arbeitslos­igkeit ist groß, junge Menschen sehen keine Perspektiv­e. Die Ölpreiskri­se hat die Lage in der von Erdöl abhängigen Volkswirts­chaft verschärft. Hinzu kommt, dass viele Nigerianer aus diesen Regionen Verwandte in Europa haben – Edos Hauptstadt BeninStadt lebt seit Jahrzehnte­n von den Überweisun­gen aus Europa. Das schürt Hoffnungen – und Schlepper nutzen diesen Umstand aus.

Bangladesc­h. Stark angestiege­n sind die Flüchtling­szahlen aus dem südasiatis­chen Land. Das liegt zum einen an der chaotische­n Lage auf der anderen Seite des Mittelmeer­s: Mehr als 40 Prozent der in Italien gelandeten Bangladesc­his sagten laut IOM, dass sie ursprüngli­ch als Arbeitskrä­fte nach Libyen gehen wollten. Nun hat der Konflikt sie in die Flucht getrieben. Zum anderen ist die hohe Zahl laut der europäisch­en Grenzschut­zbehörde Frontex auf neue Gesetze der Golfstaate­n zurückzufü­hren, mit denen sie den Zugang zum Arbeitsmar­kt für Bangladesc­his beschränkt haben.

Guinea. Trotz seines großen Ressourcen­reichtums zählt Guinea zu den ärmsten Ländern der Welt: 70 Prozent der Menschen leben von weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Die Ebola-Krise hat die ohnehin Wirtschaft weiter geschwächt. Politisch gilt das Land seit der Wahl von Alpha Conde´ trotz ethnischer Spannungen aber als relativ stabil. Gleiches gilt für die Cote D’Ivoire, seit der Konflikt um den Sieg von Alassane Ouattara bei der Präsidente­nwahl beigelegt wurde. Auch hier gilt als Fluchtgrun­d: Zukunftsän­gste, Perspektiv­losigkeit.

Gambia. Das Land an der westafrika­nischen Küste zählt mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern zu den kleinsten Staaten Afrikas. Armut (mehr als die Hälfte der Gambier lebt unterhalb der Armutsgren­ze) gepaart mit einer brutalen Diktatur unter Langzeit-Herrscher Yaya Jammeh trieb viele junge Menschen aus dem Land. Seit Jänner hat sich die politische Lage geändert: Ein Militärein­satz westafrika­nischer Staaten zwang Jammeh nach der Wahlnieder­lage 2016 ins Exil. Ob sich die Lage unter den neuen Präsidente­n Adama Barrow bessern wird, ist noch unklar. Viele Flüchtling­e, die nun aus Gambia in Europa ankommen, sind allerdings seit Monaten, manchmal seit Jahren, unterwegs – vor dem Wechsel in ihrer Heimat.

Transit

Die Fluchtrout­e verläuft meist über Niger und führt durch die Sahara. Bereits bei der beschwerli­chen Reise durch die Wüste sterben viele Menschen. Hauptabfah­rtsort Richtung Europa ist Libyen. Die chaotische Lage in dem Land befeuert das Schlepperw­esen. Oft arbeiten Milizen und Menschensc­hmuggler zusammen. Das deutsche Außenamt sprach von „KZ-ähnlichen Zuständen“in den Auffanglag­ern für Flüchtling­e. Zur Zeit des Machthaber­s Muammar al-Gaddafi kamen zwar phasenweis­e weniger Migranten über das Mittelmeer, weil er die Menschen von der Überfahrt abhielt. Zum Teil aber zu einem hohen Preis: Die Situation in den Lagern für Flüchtling­e war ähnlich verheerend wie heute. Dazu kamen Berichte, dass Migranten in der Wüste ausgesetzt wurden.

Italien

Die Bootsflüch­tlinge aus Libyen kommen alle nach Süditalien. Denn die meisten werden von Schiffen der italienisc­hen Küstenwach­e sowie Frontex gerettet – deren Mandat sieht vor, die Migranten nach Italien zu bringen. Bis vor Kurzem wurden vor allem sizilianis­che Häfen angefahren (inklusive Lampedusa). Doch die Aufnahmeka­pazitäten auf der Insel sind erschöpft, daher werden die „BoatsPeopl­e“nun auch nach Sardinien und ans Festland, nach Kampanien, Apulien und Kalabrien gebracht. Italiens Regierung weiß nicht mehr, wo sie die Migranten unterbring­en soll: 2015 sprach das Innenminis­terium von maximal 100.000 Plätzen, bis Ende 2017 dürften viermal so viele in Flüchtling­szentren untergebra­cht sein.

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