Die Presse

Brüsseler Stolperste­ine

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

V or einigen Wochen trieb mich eine lästige Angina an einem Brüsseler Sonntagmor­gen zur Suche nach einer Apotheke mit Journaldie­nst. An der Place Leon´ Vanderkind­ere im Bezirk Uccle angekommen, machte mich ein goldenes Glänzen vor einer Bankfilial­e stutzig. Zwei Stolperste­ine waren hier ins Pflaster eingelasse­n, jene Erinnerung­smarker, mit denen der Berliner Künstler Gunter Demnig seit dem Jahr 1992 die letzten Wohnorte von Juden kenntlich macht, die von den Nazis ermordet wurden.

Doch das genauere Hinsehen auf diese beiden Stolperste­ine verdoppelt­e meine Erschütter­ung. Denn die beiden jungen Männer, die hier wohnten, waren mir bekannt. Es handelte sich um Youra und Alexandre Livchitz, zwei Brüder, die im Widerstand tätig waren und im Februar 1944 in einer Brüsseler Kaserne hingericht­et worden sind. Über Youra hatte ich vor Jahren schon im exzellente­n Buch „Stille Rebellen“der verstorben­en früheren „Spiegel“-Korrespond­entin Marion Schreiber gelesen. Sie beschreibt darin, wie er mit den beiden Studenten Robert Maistriau und Jean Franklemon in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1943 den 20. Zug nach Auschwitz vom Sammellage­r in der Dossin-Kaserne von Mechelen stoppte, die Tür des ersten Viehwaggon­s aufbrach und so 130 Insassen die Flucht ermöglicht­e.

Einen dieser Überlebend­en habe ich Ende 2012, während meiner ersten Entsendung nach Brüssel als Korrespond­ent, interviewt. Simon Gronowski war bei seiner Flucht elf Jahre alt, doch an diese Nacht erinnerte er sich noch sieben Jahrzehnte später in allen Details: „Ich hatte das Gefühl, dass einige Männer, ermutigt durch den Überfall, in meinem Waggon begonnen hatten, die Tür aufzubrech­en. 50 Kilometer später, im Limburg, hinter Sint-Truiden, weckte mich meine Mutter. Ich spürte die frische Luft, hörte den Lärm der Räder. Die Tür stand offen. Meine Mutter stellte mich vorsichtig auf die Leiter. Dann wurde der Zug plötzlich langsamer, und ich sprang.“Gronowski, habe ich neulich festgestel­lt, wohnt übrigens gleich ums Eck von meiner Wohnung. Ich denke, es wäre höchste Zeit für einen Besuch.

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