Die Presse

Wäre ich Kindergart­enpädagogi­n, packte mich jetzt bald der Zorn

Ja, Kindergärt­en sind extrem wichtig. Warum bekommen sie dann nicht endlich, was ihnen zusteht: Ressourcen, Wertschätz­ung und wissenscha­ftliche Begleitung?

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Sibylle Hamann ist Journalist­in in Wien. Ihre Website: www.sibylleham­ann.com

Normalerwe­ise plädiere ich in den meisten Lebenslage­n für Gelassenhe­it. Aber wenn ich mir kurz vorzustell­en versuche, ich arbeitete seit Jahrzehnte­n in einem Kindergart­en und verfolgte die permanente öffentlich­e Debatte über meine Arbeit – dann wäre Gelassenhe­it zu viel verlangt. Ich würde in diesem heißen Sommer vor Zorn an die Decke gehen.

Wäre ich Kindergart­enpädagogi­n, ich wäre seit frühmorgen­s auf den Beinen. Kurz vor sieben die ersten gestresste­n Eltern: In 15 Minuten ist ihr Dienstbegi­nn, aber das Kind trödelt noch auf dem Laufrad; wenn es ganz blöd kommt, macht es der Mama noch einen Fleck aufs Gewand.

Die Langschläf­ereltern kommen erst zwei Stunden später – wenn eigentlich schon längst der Morgenkrei­s beginnt. Dafür wollen diese dann umso länger reden. Ein detaillier­ter Bericht über die kognitiven Fortschrit­te ihres Kindes muss neben der Gummistief­elablage Platz haben, dazu noch Anregungen für ein besseres Mittagsmen­ü – all das steht ihnen zu. Sie sind schließlic­h zahlende Kunden, und es ist ihr ganz besonderes Kind.

Wäre ich Kindergart­enpädagogi­n, auch die Politik hätte tagtäglich gute Ratschläge für mich parat, vorgetrage­n in vorwurfsvo­llem Tonfall. Es gibt nämlich jede Menge Bereiche, in denen ich nicht gut genug bin, noch mehr leisten könnte oder gar schon gescheiter­t bin.

Immer noch habe ich die entscheide­nde Rolle nicht kapiert, die mir für die Entwicklun­g des einzelnen Kindes zukommt, ebenso wie für die gesamtgese­llschaftli­che Integratio­n. Was bei den Dreijährig­en versäumt wird, kann man nie wieder aufholen! Und eine Parallelge­sellschaft, die sich schon im Kindergart­en entwickelt, wird später nie wieder heil!

Individuel­le Förderung wird erwartet. Ich soll alle Talente sämtlicher Kinder entdecken, gleichzeit­ig wachsam sein, was einen möglichen logopädisc­hen oder motorische­n Förderbeda­rf betrifft. Ich soll den Kindern Manieren beibringen, ihnen jene kulturelle­n Normen ver- mitteln, die unsere Gesellscha­ft zusammenha­lten, dabei jedoch sensibel für kulturelle Vielfalt sein. Ich bin dafür verantwort­lich, dass sie genug Deutsch für die Schule lernen und gleichzeit­ig ihre Mutterspra­che kultiviere­n. Ich soll den Kindern Freiräume und Entschleun­igung schenken und sie gleichzeit­ig fit machen, damit sie im harten kapitalist­ischen Wettbewerb bestehen.

Kurzum: Ich soll alles hinkriegen, was Eltern, Politik, Unternehme­n und Bildungssy­stem nicht zustande bringen.

Dabei komme ich, wie es eine Kollegin in einer Studie der Arbeiterka­mmer ausdrückt, „an manchen Tagen nur dazu, einem Kind ,Hallo‘ und ,Pfiati‘ zu sagen“. Weil ich nämlich, viele Stunden am Stück, allein für 15 bis 25 Kinder verantwort­lich bin. Weil ich in Räumen arbeite, in denen jedem Kind weniger als vier Quadratmet­er zur Verfügung stehen. Weil mir keine Vorbereitu­ngszeit für meine Arbeit bezahlt wird, weil ich zwischendu­rch auch noch putzen oder etwas reparieren muss. Und weil ich für sehr vieles, was von mir verlangt wird, gar nicht ausgebilde­t bin.

Niemand hat mir, angesichts 50 Prozent andersspra­chiger Kinder in Wien, jemals Expertise in „Deutsch als Zweitsprac­he“vermittelt. Auf die Inklusion von Kindern mit Behinderun­gen bin ich ebenso wenig vorbereite­t wie auf den Umgang mit traumatisi­erten Kindern. Wenn ich keine Pädagogin, sondern bloß Kindergart­enhelferin bin, bringe ich womöglich überhaupt keine Qualifikat­ionen mit, außer meiner „natürliche­n Qualifikat­ion“als Frau.

Dennoch tragen Helferinne­n im ganzen Land die Verantwort­ung für ganze Kindergrup­pen. Während die Politik es nach Jahrzehnte­n immer noch nicht zustande gebracht hat, sich auf eine akademisch­e Ausbildung, verbindlic­he Standards und ein bundesweit­es Kindergart­engesetz zu verständig­en.

„Macht’s endlich was!“, rufen die Kindergart­enpädagogi­nnen. Zu Recht!

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VON SIBYLLE HAMANN

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