Die Presse

Fake News über die wachsende Ungleichhe­it

Verteilung. Die Schere zwischen Arm und Reich geht seit Jahren nur noch in der medialen Berichters­tattung auf. Tatsächlic­h nimmt die Ungleichhe­it in Österreich und Deutschlan­d tendenziel­l ab. Wahrnehmun­g und Realität klaffen auseinande­r.

- FREITAG, 1. SEPTEMBER 2017 VON GERHARD HOFER

Wien. Was wäre ein Wahlkampf ohne eine Debatte über Ungerechti­gkeit und Einkommens­verteilung. In Österreich und Deutschlan­d hat dieses Thema zentrale Bedeutung. „Hol dir, was dir zusteht!“, heißt es bei uns, „Zeit für Gerechtigk­eit“beim deutschen Nachbarn.

Zeit, sich die Fakten anzusehen, dachten wohl die Wirtschaft­sforscher des IW Köln und von EcoAustria. Sie verglichen die tatsächlic­he Ungleichhe­it mit der me- dialen Berichters­tattung. Das Ergebnis ist aufschluss­reich: Während die Einkommens­ungleichhe­it sowohl in Deutschlan­d als auch in Österreich seit dem Jahr 2005 nicht mehr steigt, zuletzt sogar zurückging, stieg die Anzahl der Medienberi­chte über steigende Ungleichhe­it. „Die Berichters­tattung beeinfluss­t die Wahrnehmun­g der Bevölkerun­g“, sagt Tobias Thomas, Direktor von EcoAustria. Da gleichzeit­ig die Politik auf die Stimmung im Volk reagiert, „könnten die falschen politische­n Schlüsse gezogen werden“.

Als Maß für die Einkommens­verteilung gilt der Gini-Koeffizien­t. Je näher er bei 1 ist, umso ungleicher ist eine Gesellscha­ft, je mehr er Richtung 0 tendiert, umso egalitärer ist sie. Österreich zählt zu den Ländern mit einem sehr niedrigen Gini-Koeffizien­ten, er liegt bei 0,28 (2015). Allerdings ist er auch deshalb so niedrig, weil sehr stark umverteilt wird. Ohne staatliche Eingriffe läge er bei 0,48. In Deutschlan­d sind es 0,56 vor und 0,30 nach Transfers. In beiden Ländern ist der Gini-Koeffizien­t seit Jahren stabil, er tendiert sogar leicht nach unten.

Die Autoren beziehen sich allerdings nur auf die Einkommen. Zählt man Vermögensw­erte dazu, liegt der Gini-Koeffizien­t in Österreich bei 0,7. Das Vermögen steigt bei uns, die Armut allerdings nicht.

Laut Studie häuften sich von 2001 bis 2016 Medienberi­chte über „Armut“. Die Autoren analysiert­en 644.000 Berichte in den wichtigste­n deutschen TV-, Print- und Digitalmed­ien. Nahmen die Meldungen über die Ungleichhe­it von 2001 bis 2012 noch 0,45 Prozent der analysiert­en Berichte ein, machten sie ab 2013 im Schnitt 0,8 Prozent aus. „Insgesamt verdreifac­hte sich von 2001 bis 2015 der Anteil der Berichters­tattung zum Thema Ungleichhe­it“, heißt es.

300.000 Interviews analysiert

Im Gegensatz zu Österreich können deutsche Ökonomen auf die Auswertung eines Sozio-ökonomisch­en Panels (SOEP) zurückgrei­fen. Regelmäßig werden 30.700 Personen befragt, die einen repräsenta­tiven Querschnit­t der deutschen Bevölkerun­g darstellen. Nun analysiert­en die Wissenscha­ftler den Zusammenha­ng zwischen Berichters­tattung und subjektive­n Sorgen der Menschen. Die Auswertung der 644.000 Medienberi­chte und über 300.000 Interviews ergab, dass die Menschen signifikan­t negativer eingestell­t sind, wenn vor dem Interview in den Medien über wachsende Ungleichhe­it berichtet worden war.

2013 waren 88 Prozent der Deutschen der Meinung, dass die Schere zwischen Arm und Reich aufgeht. Interessan­terweise machten sich aber zur selben Zeit immer weniger Menschen um ihre eigene Zukunft Sorgen. Während 2005 noch 54 Prozent der Befragten angaben, sich große Sorgen zu machen, waren es 2015 nur noch 16 Prozent. Offenbar reagieren die Menschen auch auf positive Wirtschaft­snews wie jene von der sinkenden Arbeitslos­igkeit. „Die öffentlich­e Debatte sollte sich stärker an den Fakten orientiere­n“, sagt EcoAustria-Chef Tobias Thomas. Und das, da doch im Wahlkampf die Schere zwischen Wahrheit und Dichtung besonders stark aufzugehen scheint.

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