„Niemand will von Deutschen gerettet werden“
Interview. Der Belgier Paul de Grauwe ist einer der einflussreichsten Ökonomen in Fragen der Eurozone. Warum eine Eurokrise wieder drohen kann, wie man das System stabiler macht und warum Italien sich besser verabschieden sollte.
Die Presse: Die Eurokrise scheint überwunden. Sie haben prophezeit: Ohne politische Union scheitert der Euro an seinen Konstruktionsfehlern. War das voreilig? Paul de Grauwe: Nein. Die Brüchigkeit der Eurozone zeigt sich nur im Abschwung. Im Boom bis 2007 sah auch alles gut aus, und dann tauchten plötzlich die Probleme auf. In einigen Ländern geht es dann stärker runter, ihre Budgets leiden mehr. Die Märkte werden nervös und ziehen ihr Geld ab, das System wird instabil. Das kommt wieder, ohne Zweifel! Und die Eurozone ist nicht so gebaut, dass sie damit gut umgehen kann.
Hat nicht die EZB die Lösung gebracht? Sie ist die Feuerwehr. Aber ihre Rolle ist umstritten. Wird sie wieder eingreifen, wenn ein Problem auftaucht? Sie kann sehr gut sagen: Hier fühlen wir uns nicht verantwortlich.
Es gibt auch noch den Stabilitätspakt . . . Er hat schon früher nicht funktioniert. Die Quelle der Instabilität waren auch nicht die Regierungen, sondern der private Sektor: Haushalte, Firmen und Banken verschuldeten sich schrecklich. Es waren die Märkte, die keine Disziplin zeigten. Das ist Kapitalismus, ein wunderbares System. Aber die Leute werden im Boom euphorisch und sehen die Risken nicht mehr. Dann kommt der Crash, der Staat muss einspringen und Schulden machen. Vor der Krise hatten Irland und Spanien Budgetüberschüsse und niedrige Schuldenquoten. Sie hielten den Stabilitätspakt ein, und es hat sie trotzdem erwischt.
Was schlagen Sie zusätzlich vor? Langfristig brauchen wir ein gemeinsames Budget, um Konjunkturzyklen abzufedern. Aber ich bin nicht naiv: Heute ist das nicht möglich, die Politiker wollen das nicht. Machbar sind nur kleine Schritte wie eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung zusätzlich zur nationalen. Sie soll nicht zu dauerhaften Transfers führen, das wäre falsch. Deshalb dürfen wir nur auf die konjunkturelle Komponente der Arbeitslosigkeit schauen, nicht auf den Sockel, der etwa in Spanien sehr hoch ist. Dagegen müssen die Spanier schon selbst etwas machen: Die Regulierung auf dem Arbeitsmarkt lockern, damit Jugendliche einen Job bekommen. Da hat Geld aus Österreich nichts verloren.
Aber das ist schwer zu trennen. Es besteht immer die Gefahr, dass Länder Reformen verweigern, wenn sie sicher sein können, dass sie von anderen gerettet werden . . . Ich weiß, Österreicher und Deutsche machen sich da große Sorgen. Aber ich halte das für übertrieben. Glauben Sie wirklich, die Griechen haben es auf ihre Krise ankommen lassen, weil sie sich dachten: Die Deutschen holen uns da schon raus? Es gibt nichts Schlimmeres, als von den Deutschen gerettet zu werden! Niemand würde das
(69) ist ein belgischer Wirtschaftswissenschaftler. Er lehrt an der London School of Economics. Über viele Jahre war er Parlamentarier der belgischen Liberaldemokraten. Früher ein Anhänger des freien Marktes, betont er heute stärker die steuernde Rolle des Staates. Sein Lehrbuch „The Economics of Monetary Union“wurde in zehn Sprachen übersetzt. Am Donnerstag war er auf Einladung der Wirtschaftskammer und des Wirtschaftspolitischen Zentrums in Wien. wollen, auch Sie nicht. Übrigens: Hätten wir eine solche Arbeitslosenversicherung Anfang der Nullerjahre gehabt, welches Land hätte am meisten profitiert? Deutschland!
In einer Währungsunion können Krisenländer nur intern abwerten, den Gürtel enger schnallen. Sie sagten voraus, das führe zu Revolten. Aber es hat funktioniert. Heute stehen Irland, Spanien und Portugal solider da als vor der Krise. Stimmt: Diese Länder hatten höhere Inflation, ihre Löhne stiegen zu stark, und sie verloren an Wettbewerbsfähigkeit. Das mussten sie korrigieren. Aber viele Menschen haben darunter gelitten, über Gebühr. Denn hätten die Staaten mit Leistungsbilanzüberschüssen ihre eigene Wirtschaft angekurbelt, dann hätten sich die Defizitländer leichter anpassen können. So war es einseitig. Und das führte zu der Wahrnehmung, dass die Gläubiger den anderen ein Diktat aufzwingen. So etwas reißt uns auseinander. Noch einmal stehen wir das nicht durch.
Die Deutschen sagen: Wenn unser Staat mehr ausgibt und sich verschuldet, haben wir dieselben Probleme wie Südeuropa . . . Wenn ein Staat zu Hause sinnvoll investiert, etwa in grüne Technologien, hat er daraus künftig Erträge. Wenn diese viel höher sind als die heute lächerlich niedrigen Zinsen: Dann sollte er investierten. Unsere Kinder erben die gesamte Bilanz, Vermögen und Schulden. Diese Besessenheit, immer nur auf die Schuldenseite zu schauen – kein privates Unternehmen würde das machen.
Weil man implizit davon ausgeht, dass nur private Investitionen produktiv sind. Ein Vorurteil. Natürlich wird auch Mist gemacht. Aber wir haben uns so auf diesen Mist fokussiert, dass wir glauben, eine Regierung könne nicht produktiv investieren, das Geld sei von vornherein verschwendet. Das ist zynisch, eine schlechte Einstellung.
Sie empfehlen Italien den Euroaustritt . . . Italien hat ein Riesenproblem. Es ist schockierend: Das Pro-Kopf-Einkommen ist niedriger als 1999. Das ist nicht einmal in Griechenland passiert. Mit der Lira gab es diesen Abwertungskreislauf. Alles war da- rauf abgestimmt und ist es im Grunde bis heute. Deshalb gibt es in Italien fast keine innere Abwertung, anders als in den anderen Krisenländern. Da läuft etwas total schief, und es liegt wohl am politischen System. Wenn es so schwach ist, dann ist es besser, sie verlassen den Euro. Das sehen auch viele italienische Kollegen so.
Die Briten verlassen gleich die ganze EU. Welche Folgen hätte ein harter Brexit? Ohne Einigung wird es schlimm. Denken Sie an die vernetzten Wertschöpfungsketten: Jedes Auto hat Bauteile aus aller Welt, die mehrmals Grenzen passieren. Das führt zu einem riesigen Handicap für Länder, die sich absondern. Der Großteil des britischen Handels läuft mit der EU. Eine so enge Vernetzung kann man mit anderen gar nicht aufbauen. Außerdem muss man neue Verträge aushandeln. Bis jetzt waren die Briten dank EU überall dabei. Was sie wollen, haben sie schon jetzt – und vernichten es. Nur weil sie die Personenfreizügigkeit ablehnen und dieser nostalgischen Idee von Souveränität nachhängen. Im Handel müssen sie dann Regeln folgen, die andere festlegen. Und damit verlieren sie erst recht ihre Souveränität.