Was Anstand bedeutet, das lässt sich leicht googeln
Dank der letzten ORF-„Sommergespräche“wissen wir jetzt wenigstens, was die SPÖ-Parole „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“wirklich meint.
Ein Richter, der zwei Jahre vor einem Strafprozess mit dem Angeklagten auf Urlaub war, wird sich für „befangen“erklären und das Verfahren an einen Kollegen abgeben müssen. Niemand würde diesem Richter deshalb mangelnde fachliche oder charakterliche Qualifikation unterstellen, eher ganz im Gegenteil. Unvereinbarkeiten zu erkennen und daraus den korrekten Schluss zu ziehen ist professionelles Verhalten.
Aus genau diesem Grund hätte ORFGeneraldirektor Alexander Wrabetz nicht zulassen dürfen, dass Tarek Leitner die ORF-„Sommergespräche“mit Christian Kern moderiert. Mit diesem auf Urlaub gewesen zu sein bewirkt zwingend jene Befangenheit, die zu vermeiden professionelles Verhalten gewesen wäre. Dass Leitner nun künftig keine Debatten mit Kern mehr leiten darf, ist ein allzu spätes Schuldeingeständnis des ORF.
Dahinter steht freilich eine Mentalität, die fast tagtäglich zu beobachten ist. Alfred Gusenbauer etwa begreift offenbar bis heute nicht, dass man nicht dem sozialistischen Renner-Institut vorstehen kann und gleichzeitig hochbezahlter Lobbyist von Konzernen sein kann, die auf Tagungen des Renner-Instituts als profitgeile Multis gelten.
Ganz offenbar ist vielen öffentlichen Akteuren das Bewusstsein dafür abhandengekommen, dass nicht alles, was legal ist, deswegen auch schon legitim ist, dass nicht alles, was erlaubt ist, deswegen auch zulässig oder gar anständig ist.
Immer weniger hat Geltung, was früher im bürgerlichen Milieu, aber durchaus auch in der Arbeiterbewegung zu ihren Blütezeiten und bis in die Nachkriegszeit hinein ungeschriebenes, aber ehernes Gesetz war: der schlichte Satz „Das tut man einfach nicht“. Damit war stets ein enges Geflecht informeller, aber eher strenger Regeln gemeint, die jenseits des geschriebenen Rechts ein gedeihliches Zusammenleben sichern sollten. Dass man sich beim Gähnen die Hand vor den Mund hält, steht in keinem Gesetz, ist aber trotzdem eher hilfreich.
Der (2014 verstorbene) Bankier Heinrich Treichl hat das in seinem Me- moirenband „Fast ein Jahrhundert“klug beobachtet: „Das ersatzlose Verschwinden fast des gesamten alten Bürgertums mit seinen Wertordnungen“habe zu einem „verhängnisvollen Verlust moralischer Kategorien geführt“.
Denn an seine Stelle ist weitgehend eine Karikatur dieses Bürgertums getreten, das mehr eine Art hedonismuszentrierte Bobokultur für Frühergraute geworden ist, wo an die Stelle jener „moralischen Kategorien“die Sternekategorien des „Guide Michelin“getreten sind. „Das tut man nicht“bezieht sich in diesem neobürgerlichen Milieu höchstens darauf, seine Ferien im falschen Teil der Toskana zu verbringen.
Noch übler freilich hat es diesbezüglich die einstige Arbeiterbewegung erwischt. Wenn sie nun mit der Losung „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“um Wählerstimmen wirbt, dann ist das geradezu die Antithese zu jenem „Das tut man nicht“, das für das Gelingen des menschlichen Zusammenlebens unabdingbar ist. Denn das erfordert ja, sich eben nicht alles zu nehmen, worauf man möglicherweise sogar einen Rechtsanspruch hat.
Natürlich hat Gusenbauer das Recht, Geschäfte zu machen, mit wem immer er will, und Alexander Wrabetz, zum „Sommergespräch“zu nominieren, wen immer es ihm beliebt. Nur sehr anständig ist es im konkreten Fall nicht. Denn man tut es halt nicht. (Der Begriff Anstand lässt sich ja übrigens leicht googeln.)
Zur ihrer Entlastung können all jene, die das nicht verstehen wollen, freilich eines ins Treffen führen: Sie bewegen sich meistens in beruflichen und sozialen Milieus, die jene, die sich tatsächlich an dieses „Das tut man einfach nicht“halten, wie Vollidioten aussehen lassen, die Feinde ihres eigenen Erfolgs sind. Wer etwa Jahrzehnte im ORF gearbeitet hat, wo bekanntlich nur persönliche Qualifikation zählt, und nicht etwa Familienbande, Parteinähe oder Günstlingswirtschaft, der wird sich irgendwann fragen, ob er (oder sie) dämlich ist, sich nicht zu holen, was einem doch zusteht.