Jagger und das Messer im Herzen
Rolling Stones. Wer ist der Midnight Rambler? Und Mr. D? Wie gut kann das lyrische Ich von Keith Richards mit Geld umgehen? Wissenswertes zu den Songs, die die 90.000 Besucher des Konzerts heute abend in Spielberg erwarten.
Wissenswertes von Thomas Kramar zu den Songs, die 90.000 Besucher des Konzerts der Rolling Stones in Spielberg erwarten.
Das Programm der „No Filter“-Tour der Stones ist so klassisch, dass es fast schon enttäuschend ist. Die folgenden 20 Stücke sind ziemlich fix, dazu kommt jedenfalls noch ein vom Publikum gewählter Song, diesmal „She’s a Rainbow“, „Dead Flowers“, „Shine a Light“oder „Doo Doo Doo Doo Doo (Heartbreaker)“.
Sympathy for the Devil (1968) „Please allow me to introduce myself . . . “Höflich wie der Voland in Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“(den er 1968 gelesen hatte) stellt sich Mick Jagger als Teufel vor. Er war, singt er, immer dabei: als Pilatus seine Hände in Unschuld wusch, als der Zar ermordet wurde, als der Blitzkrieg wütete. Jean-Luc Godard zeigte in „One Plus One“, wie der Song im Studio entstand: „Der Film war kompletter Mist“, urteilte Keith Richards streng. Das kann man über sein vorbildlich sparsames Gitarrensolo nicht sagen.
It’s Only Rock’n’Roll (But I Like it) (1974) Verwandlung. Jagger ist kein Satan mehr, sondern ein Bub, der mit dem sensationslüsternen Publikum kokettiert: Wenn ich ein Messer in mein Herz stechen könnte, mich auf der Bühne umbringen würde, fragt er, würde euch das befriedigen? Richards spielt dazu ein staubtrockenes Chuck-Berry-Riff im dumpfen Glitterrocksound.
Tumbling Dice (1972) Jagger in der Rolle des unverbesserlichen Weiberers und Spielers: Die Frauen wollten ihn verbrauchen, klagt er, wollten, dass er seine Kerze abbrennt. Aber er bleibt dem Spiel treu – und trägt sein Schicksal, wohin immer das Leben ihn auch würfelt. Der Refrain zieht sich etwas, das passt zum Thema.
Out of Control (1997) Nein, ein würdiges Alterswerk haben die Stones nie zustande gebracht. (Was daran liegt, dass sich Jagger weigert, alt zu werden.) Dem Ideal am nächsten kommt dieser dramatische Song. Er sei jung, dumm, eitel und charmant gewesen, erklärt Jagger, aber jetzt sei er außer Kontrolle. Dann ruft er um Hilfe – und spielt Mundharmonika. Nicht schlecht.
Just your Fool (1953/2016) Zu den Vätern! Dieser Rhythm-and-BluesSong wurde 1953 von Buddy Johnson in einem Bigband-Arrangement aufgenommen, Little Walter übersetzte ihn 1960 in einen Chicago Blues. Die devote Liebeserklärung wird etwas düster, wenn der Sänger droht: „If you gonna leave me for someone new, gonna buy me a shotgun, shoot it at you.“
Ride ’em on Down (1955/2016) Noch ein alter Blues, diesfalls von Eddie Taylor, der wie so viele seiner Gilde aus Mississippi nach Chicago wanderte. Dancing With Mr. D (1973) Zeigt sich der Tod einst mit Verlaub – dann zupft er Jagger nicht, sondern tanzt mit ihm einen ausgesprochen morbiden Funk-Blues. Man hört, wie vor allem Richards damals mit seiner Endlichkeit kokettierte. Bis heute trägt er zwar nicht wie Mr. D die Totenschädel um den Hals, wohl aber einen am Ringfinger.
You Can’t Always Get What you Want (1969) Einer der wenigen Popsongs, in denen die Oboe eine tragende Rolle spielt. (Und der ewig beste mit klassischem Chor.) Sie führt zu Jaggers Lob der Bescheidenheit – in den drei Bereichen, die in den späten Sixties zählten: Liebe, Politik, Drogen.
Paint it Black (1966) Nie davor und danach war London so düster, wie es die Stones in der Mitte der Sixties durch ihre Sonnenbrillen sahen. In diesem Song – der durch zwei gegenläufige Rhythmen hektisch und stoisch zugleich wirkt – ist sogar das Herz des Sängers schwarz.
Honky Tonk Women (1969) Die ursprüngliche Version ist recht rural (und als „Country Honk“auf „Let it Bleed“zu hören). Die elektrische Fassung beginnt immerhin mit einer Kuhglocke, bevor Jagger die ersten Zeilen singt, die Peter Schleicher so ins Wienerische übertragen hat: „I triff a fette Beiselhur in Meidling.“Bodenständig.
Happy (1972) Jetzt übernimmt Keith Richards das Mikrofon – als fröhlicher Tunichtgut, der gesteht: „I never kept a dollar past sunset, it always burned a hole in my pants.“Und: „Always took candy from strangers, didn’t wanna get me no trade.“Wer kann diesem Charme – noch dazu mit Bläsersatz – widerstehen?
Slipping Away (1989) Noch einmal der alte Richards, etwas nachdenklicher, aber auch bekenntnishaft: „All I want is ecstasy“, singt er, „but I ain’t getting much.“Das Leben ist kurz, und, ach, auch das Lied ist so schnell vorbei . . .
Midnight Rambler (1969) Frauenmord war im Pop der Sixties ein recht beliebtes Thema (siehe „Hey Joe“), Jagger treibt es hier auf die Spitze und schlüpft im ausgedehnten Mittelteil erst in die Rolle des Schänders und Mörders, um sich dann in einen Rächer zu verwandeln, der dem Midnight Rambler die Kehle durchsticht. Richards nannte das eine „Blues-Oper“.
Miss You (1978) Auf dem Album „Some Girls“mussten sich die Stones nicht nur mit dem Punk messen, sondern auch die/den Disco entdecken. Das gelang ihnen viel besser. Jagger beklagt im Falsett, dass er allein schlafen müsse, um dann in tieferer Lage mit Wein und „some Puerto Rican girls“zur Party zu rufen.
Street Fighting Man (1968) Quasi-Fortsetzung von „Dancing in the Street“(Martha & The Vandellas, 1964) und Lieblingssong aller 68er-Retrospektiven. Der akzentuierte Rhythmus passt ja auch perfekt zu Demo-Sequenzen. Dabei erklärt Jagger doch nur, dass ihm armen englischen Knaben im schläfrigen London nichts bleibe, als in einer Rock’n’Roll-Band zu singen. Start me Up (1978/1981) Wer zwei- bis eindeutige Sexualmetaphern mag (und Autowerbung mit Pin-ups okay findet), ist hier gut bedient. Das Gitarrenriff ist, äh, suggestiv und half Microsoft bei der Markteinführung von Windows 95.
Brown Sugar (1971) Gleich noch einmal strenger Sexismusverdacht. „The lyric was all to do with the dual combination of drugs and girls“, sagte Jagger selbst. Auch die Szene – ein Sklavenmarkt im alten New Orleans – ist nicht wirklich korrekt.
(I Can’t Get No) Satisfaction (1965) Als die Konsumwelt (und die Klage über sie) noch jung war: Jagger gibt den nie Zufriedenen, Richards umkreist ihn mit dem lässigsten Gitarrenriff aller Zeiten. Was für ein Glück, dass er es nicht, wie ursprünglich geplant, von Bläsern spielen ließ!
Gimme Shelter (1969) „War, children, it’s just a shot away“: Dieser Song, vielleicht der schönste der Stones, zeichnet die Naherwartung einer Apokalypse, privat, politisch und dann wieder privat. Trauer, Angst, Klage, Suche nach Schutz und doch ein winziger Strahl Zuversicht.
Jumpin’ Jack Flash (1968) Am Ende bleibt dieser Held, angeblich nach Richards’ Gärtner benannt, der sich einst nach psychedelischen Wirren meldete: in einem Hurrikan geboren, von einer Bärtigen aufgezogen, mit Schlägen geschulmeistert, halb ertrunken, gekrönt mit einem Nagel im Kopf. Was für eine Passion. Nicht der Christus, der Candide des Pop. „It’s all right now.“