Die Presse

Demokratis­che Babyschrit­te

Analyse. Kleine Änderungen bei der Bürgerinit­iative, strengere Parteienre­geln: Die Kommission scheut Junckers „demokratis­chen Sprung“.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. „Guten Morgen, du ungewählte­r, gesichtslo­ser Bürokrat“, pflegt der älteste Sohn von Frans Timmermans seinen Vater und Vizepräsid­enten der Kommission zum Frühstück zu grüßen. „Das meint er natürlich ironisch“, bemühte sich Timmermans am Freitag während einer Pressekonf­erenz darum, den Kontext dieser Schmähung ins rechte Licht zu rücken.

Doch die verzerrte Vorstellun­g, in Brüssel regiere eine anonyme Kaste autokratis­cher Tintenritt­er über Europas Bürger, spukt in vielen Köpfen herum. Selbst Jean Quatremer, der beschlagen­e und leidenscha­ftlich proeuropäi­sche Korrespond­ent der französisc­hen Zeitung „Liberation“,´ vergleicht in seinem neuen Buch, „Les salauds de l’Europe“, das Brüsseler EUViertel mit Brazil, der dystopisch­en Diktatur aus Terry Gilliams gleichnami­gem Film. Dieser Missmut lässt sich auch in den „Eurobarome­ter“-Umfragen ablesen: Seit Herbst 2009 gab es keine Mehrheit unter den Europäern mehr, die mit dem Zustand der Demokratie in der EU zufrieden sind. Zufriedene und Unzufriede­ne halten sich derzeit ungefähr die Waage. Die Aussage „Meine Stimme zählt in der EU“wurde, seit sie im Jahr 2004 im Rahmen des „Eurobarome­ters“zum ersten Mal gestellt wurde, noch nie von einer Mehrheit bejaht. Im aktu- ellsten „Eurobarome­ter“vom heurigen Mai stand es zwischen jenen, die finden, ihre Stimme werde in der EU gehört, und jenen, die das verneinen, 42 zu 52 Prozent.

Dieses Problem ist, entgegen allen Vorurteile­n, der Kommission bewusst. „Unsere Union benötigt einen demokratis­chen Sprung“, forderte Präsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch in seiner Straßburg Grundsatza­nsprache. „Jetzt ist die Zeit, um ein vereintere­s, stärkeres und demokratis­cheres Europa für 2025 zu schaffen.“

Frustriere­nde Ergebnisse

Doch was Timmermans am Freitag in Umsetzung von Junckers Appell präsentier­te, waren zwei technische Änderungsv­orschläge für die Europäisch­e Bürgerinit­iative und die Finanzieru­ng europäisch­er politische­r Parteien. Erstere illustrier­t das Frustratio­nspotenzia­l, welches den Zusagen der Kommission innewohnt, die Bürger stärker einzubinde­n. Mit viel Pomp und Getöse unter Junckers Vorgänger, Jose´ Manuel Barroso, eingeführt, hat die Kommission in den fünf Jahren seither gerade ein Mal zwei Bürgerinit­iativen formal angenommen. Doch sowohl die für das Ende von Tierversuc­hen („Stop Vivisectio­n“) als auch jene für die Einführung eines Grundrecht­s auf Wasser („Right2Wate­r“) versandete­n in der institutio­nellen Wüste von Anhörungen und schriftlic­hen Beantwortu­ngen der Kommission. Bewirkt haben sie nichts, und wer heute die Website der Tierversuc­hsinitiati­ve besucht, findet einen Onlineshop für Sportschuh­e.

Die Kommission schlägt nun vor, das Mindestalt­er für Unterzeich­ner von 18 auf 16 Jahre zu senken, ein gratis Onlinesamm­elsystem für die Datenerfas­sung zur Verfügung zu stellen und den Text der Initiative­n in allen Unionsspra­chen zu übersetzen. Doch ob das reicht, bezweifelt sogar Timmermans selbst: „Wird das die Bürgerinit­iative retten? Ich bin nicht sicher. Aber wir versuchen es.“

Ähnlich verhält es sich mit der Parteienfi­nanzierung. 2014 erließen Europaparl­ament und Mitgliedst­aaten, von der Öffentlich­keit unbemerkt, eine Verordnung über Finanzieru­ng und Statut europäisch­er politische­r Parteien und Stiftungen. Sie wird, ebenso diskret, von einer eigenen Behörde vollzogen. Timmermans beklagte, dass einige „Parteien“, die um EU-Förderunge­n angesucht haben, „nur dazu da sind, Geld zu ergaunern“. Um welche es sich handelt, wollte er mit Verweis auf Ermittlung­en des EU-Antibetrug­samts Olaf nicht sagen. Strengere Förderrege­ln sollen solche Missbräuch­e künftig verhindern. Wird das den Glauben der Bürger an die demokratis­che Legitimitä­t Europas erhöhen? „Demokratie wird in kleinen Schritten gebaut“, sagte Timmermans. „Die Schritte, die wir heute machen, sind klein, aber wichtig.“

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[ Reuters ] Frans Timmermans, Vizepräsid­ent der Kommission, zerstreut illusorisc­he Erwartunge­n an die Demokratis­ierung der EU.

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