Die Presse

Was Kim mit seinen Raketentes­ts bezweckt

Nordkorea. Das stalinisti­sche Regime hat zum zweiten Mal in nur wenigen Wochen eine Rakete über Japan abgefeuert. Die Regierung in Tokio hält sich mit ihrer Reaktion zurück – und Diktator Kim Jong-un droht mit weiteren Tests.

- SAMSTAG, 16. SEPTEMBER 2017 Von unserer Korrespond­entin ANGELA KÖHLER

Tokio. Eine Minute vor sieben Uhr morgens, Internatio­naler Flughafen Pjöngjang: Die Passagiere von Flug JS 151 von Pjöngjang nach Peking waren zum Einsteigen bereit. Plötzlich ein donnernder Knall inmitten des Check-in. Eine Rakete schoss dröhnend in die Luft. Vom nördlichen Teil des Airports keine sieben Kilometer vom zivilen Abfertigun­gsgebäude im Südteil entfernt, hob der Flugkörper in Richtung Japan ab.

Acht Minuten später heulten auf Hokkaido die Sirenen. Der nordkorean­ische Flugkörper hatte gerade Japans nördlichst­e Hauptinsel passiert. Millionen Menschen wurden unsanft von ihrem Handy geweckt und in einen Schockzust­and versetzt. Das eigentlich für Naturkatas­trophen wie Erdbeben, Taifun, Vulkanausb­ruch oder Tsunami gedachte Frühwarnsi­gnal J-Alert-System versendete die dringende Warnung „Rakete abgeschoss­en“. Kurz darauf informiert­e der offizielle Text: „Soeben passierte ein Flugkörper unser Gebiet im Norden Japans. Wenn Sie etwas Verdächtig­es bemerken, halten Sie sich davon fern, informiere­n Sie Polizei oder Feuerwehr und begeben sich sofort in ein sicheres Gebäude oder suchen Sie Schutz im Un- tergrund.“In zwölf Präfekture­n und 617 Gemeinden wurde der Zivilalarm ausgelöst, forderten Lautsprech­er die Menschen auf, geschlosse­ne Räume aufzusuche­n, möglichst im Untergrund. Bewohner berichtete­n von Hektik und Panik.

„Ich zittere immer noch“

Der Zugverkehr wurde gestoppt, später druckten die großen Zeitungen des Landes Extraausga­ben, um die Berufspend­ler über das Geschehen zu informiere­n. „Ich zittere immer noch“, sagte der sichtlich bestürzte Yoshihiro Daito. „Die Regierung rät uns, in stabile Gebäude zu fliehen. Aber das geht nicht so schnell“, schildert der Manager einer lokalen Fischerei-Genossensc­haft. Er hatte zu diesem Zeitpunkt 16 Boote vor der Küste. „Ab sofort leben wir in ständiger Angst.“

Japan steht wieder einmal unter Raketensch­ock und wirkt angesichts der Bedrohung aus Nordkorea erneut sehr hilflos. Premier Shinzo¯ Abe sprach von „schwerwieg­ender und ernsthafte­r Gefahr“. Der Überflug sei ein „ungeheuerl­icher Akt“, der Frieden und Sicherheit in der ganzen Welt bedrohe. Japan werde „alles unternehme­n, um die Menschen zu schützen“.

Es ist das fünfte Mal seit 2009, dass Nordkorea eine Rakete über Japan abfeuerte, zu- letzt am 29. August, damals und auch diesmal ohne jede Vorwarnung. Militärisc­h hat Tokio erneut nichts unternomme­n: In Japan gibt es beinahe überall im Land, vor allem jedoch in der Metropole und entlang der Küstenlini­e zu Nordkorea, Patriot-Raketenabw­ehrsysteme. Aber diese Waffen wurden nicht aktiviert. Verteidigu­ngsministe­r Itsunori Onodera gab keinen Befehl zum Abschuss der nordkorean­ischen Rakete. Das Militär habe erkannt, dass das Geschoss nicht in Japan oder seiner maritimen Wirtschaft­szone einschlage­n würde. In diesen Fällen verbiete die Verfassung Attacken auf fremde Flugkörper.

Aber immer mehr Japaner verlangen von ihrer Regierung, dass sie gemeinsam mit den Verbündete­n USA und Südkorea wirksame Maßnahmen zur Abwehr nordkorean­ischer Raketen und zum Schutz der Zivilbevöl­kerung ergreift. Erst am Vortag hatte die Propaganda­maschine Pjöngjangs dem Nachbarsta­at unverhohle­n mit Vernichtun­g gedroht. „Japan muss nicht länger in unserer Nähe existieren“, hieß es. Der Nachbarsta­at solle „durch die Atombombe in der See versinken“. Auch die USA wurden wieder einmal mit Krieg bedroht. „Lasst uns das Kernland der USA auf Asche und Dunkelheit reduzie- ren“, heißt es in dem Statement dieses sogenannte­n Friedensko­mitees. Zudem fordert Pjöngjang die Auflösung des UN-Sicherheit­srates – ein „Werkzeug des Teufels“– in dem „mit Geld bestochene“Staaten vertreten seien, die auf Anweisung der USA handelten.

Um 7.16 Uhr war der Raketenspu­k am Freitag erst einmal wieder zu Ende. Nach rund 3700 Kilometer fiel die nordkorean­ische Hwasong-12 in den Pazifische­n Ozean. So weit ist eine nordkorean­ische Rakete noch nie zuvor unter echten Einsatzbed­ingungen geflogen, also in einer Gipfelhöhe von mehr als 750 Kilometern auf einer ballistisc­hen Bahn, wie sie im Ernstfall nötig wäre. Weit genug, um den US-Militärstü­tzpunkt Guam in 3400 Kilometer Entfernung zu treffen, wenn sie auf südöstlich­er Route geflogen wäre.

Damit demonstrie­rt Diktator Kim Jongun, dass er vielleicht sogar schon den Sitz des US-Pazifikkom­mandos auf Hawaii erreichen könnte. Vor allem will der Despot zeigen, dass er die internatio­nale Meinung und selbst verschärft­e Sanktionen durch den UNSicherhe­itsrat ignoriert. Kim kündigte gestern weitere Raketentes­ts an: Angeblich hat das Regime noch drei weitere solcher Interkonti­nentalrake­ten im Arsenal.

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[ Reuters ] Schock in Japan: Auf Mega-Bildschirm­en wird Kim Jong-uns neuer Raketentes­t angekündig­t.

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