Was Kim mit seinen Raketentests bezweckt
Nordkorea. Das stalinistische Regime hat zum zweiten Mal in nur wenigen Wochen eine Rakete über Japan abgefeuert. Die Regierung in Tokio hält sich mit ihrer Reaktion zurück – und Diktator Kim Jong-un droht mit weiteren Tests.
Tokio. Eine Minute vor sieben Uhr morgens, Internationaler Flughafen Pjöngjang: Die Passagiere von Flug JS 151 von Pjöngjang nach Peking waren zum Einsteigen bereit. Plötzlich ein donnernder Knall inmitten des Check-in. Eine Rakete schoss dröhnend in die Luft. Vom nördlichen Teil des Airports keine sieben Kilometer vom zivilen Abfertigungsgebäude im Südteil entfernt, hob der Flugkörper in Richtung Japan ab.
Acht Minuten später heulten auf Hokkaido die Sirenen. Der nordkoreanische Flugkörper hatte gerade Japans nördlichste Hauptinsel passiert. Millionen Menschen wurden unsanft von ihrem Handy geweckt und in einen Schockzustand versetzt. Das eigentlich für Naturkatastrophen wie Erdbeben, Taifun, Vulkanausbruch oder Tsunami gedachte Frühwarnsignal J-Alert-System versendete die dringende Warnung „Rakete abgeschossen“. Kurz darauf informierte der offizielle Text: „Soeben passierte ein Flugkörper unser Gebiet im Norden Japans. Wenn Sie etwas Verdächtiges bemerken, halten Sie sich davon fern, informieren Sie Polizei oder Feuerwehr und begeben sich sofort in ein sicheres Gebäude oder suchen Sie Schutz im Un- tergrund.“In zwölf Präfekturen und 617 Gemeinden wurde der Zivilalarm ausgelöst, forderten Lautsprecher die Menschen auf, geschlossene Räume aufzusuchen, möglichst im Untergrund. Bewohner berichteten von Hektik und Panik.
„Ich zittere immer noch“
Der Zugverkehr wurde gestoppt, später druckten die großen Zeitungen des Landes Extraausgaben, um die Berufspendler über das Geschehen zu informieren. „Ich zittere immer noch“, sagte der sichtlich bestürzte Yoshihiro Daito. „Die Regierung rät uns, in stabile Gebäude zu fliehen. Aber das geht nicht so schnell“, schildert der Manager einer lokalen Fischerei-Genossenschaft. Er hatte zu diesem Zeitpunkt 16 Boote vor der Küste. „Ab sofort leben wir in ständiger Angst.“
Japan steht wieder einmal unter Raketenschock und wirkt angesichts der Bedrohung aus Nordkorea erneut sehr hilflos. Premier Shinzo¯ Abe sprach von „schwerwiegender und ernsthafter Gefahr“. Der Überflug sei ein „ungeheuerlicher Akt“, der Frieden und Sicherheit in der ganzen Welt bedrohe. Japan werde „alles unternehmen, um die Menschen zu schützen“.
Es ist das fünfte Mal seit 2009, dass Nordkorea eine Rakete über Japan abfeuerte, zu- letzt am 29. August, damals und auch diesmal ohne jede Vorwarnung. Militärisch hat Tokio erneut nichts unternommen: In Japan gibt es beinahe überall im Land, vor allem jedoch in der Metropole und entlang der Küstenlinie zu Nordkorea, Patriot-Raketenabwehrsysteme. Aber diese Waffen wurden nicht aktiviert. Verteidigungsminister Itsunori Onodera gab keinen Befehl zum Abschuss der nordkoreanischen Rakete. Das Militär habe erkannt, dass das Geschoss nicht in Japan oder seiner maritimen Wirtschaftszone einschlagen würde. In diesen Fällen verbiete die Verfassung Attacken auf fremde Flugkörper.
Aber immer mehr Japaner verlangen von ihrer Regierung, dass sie gemeinsam mit den Verbündeten USA und Südkorea wirksame Maßnahmen zur Abwehr nordkoreanischer Raketen und zum Schutz der Zivilbevölkerung ergreift. Erst am Vortag hatte die Propagandamaschine Pjöngjangs dem Nachbarstaat unverhohlen mit Vernichtung gedroht. „Japan muss nicht länger in unserer Nähe existieren“, hieß es. Der Nachbarstaat solle „durch die Atombombe in der See versinken“. Auch die USA wurden wieder einmal mit Krieg bedroht. „Lasst uns das Kernland der USA auf Asche und Dunkelheit reduzie- ren“, heißt es in dem Statement dieses sogenannten Friedenskomitees. Zudem fordert Pjöngjang die Auflösung des UN-Sicherheitsrates – ein „Werkzeug des Teufels“– in dem „mit Geld bestochene“Staaten vertreten seien, die auf Anweisung der USA handelten.
Um 7.16 Uhr war der Raketenspuk am Freitag erst einmal wieder zu Ende. Nach rund 3700 Kilometer fiel die nordkoreanische Hwasong-12 in den Pazifischen Ozean. So weit ist eine nordkoreanische Rakete noch nie zuvor unter echten Einsatzbedingungen geflogen, also in einer Gipfelhöhe von mehr als 750 Kilometern auf einer ballistischen Bahn, wie sie im Ernstfall nötig wäre. Weit genug, um den US-Militärstützpunkt Guam in 3400 Kilometer Entfernung zu treffen, wenn sie auf südöstlicher Route geflogen wäre.
Damit demonstriert Diktator Kim Jongun, dass er vielleicht sogar schon den Sitz des US-Pazifikkommandos auf Hawaii erreichen könnte. Vor allem will der Despot zeigen, dass er die internationale Meinung und selbst verschärfte Sanktionen durch den UNSicherheitsrat ignoriert. Kim kündigte gestern weitere Raketentests an: Angeblich hat das Regime noch drei weitere solcher Interkontinentalraketen im Arsenal.