Aus dem Blickwinkel der Fische
In Wien können sich Tiere frei in einer virtuellen Welt bewegen. Die projizierte Umgebung passt sich ständig der Sichtweise des Tieres an. So werden Fragen zu Verhalten und Informationsverarbeitung gelöst.
Ein fünf Millimeter kleiner Fisch schwimmt in einer Schale mit 4,2 Litern Wasser, man sieht ihn kaum. Die Wasserschale schaut aus wie ein Wok, die Wasseroberfläche ist so glatt, dass man mit dem Finger hineintaucht, um sicher zu sein, dass überhaupt Flüssigkeit drin ist. Der ganze Aufbau ist ein dunkler Kasten, etwa ein mal ein Meter breit und eineinhalb Meter hoch. Haufenweise Kameras sind montiert, und ein Computer steuert die Bilder an, die in die Wasserschale projiziert werden. Diese ist aus Plexiglas, das direkt als Bildschirm dient und normalerweise für große Flug- oder Autosimulatoren genutzt wird. Hier ist die Plexiglasschale das Herzstück einer virtuellen Welt für Fische, die im Keller der Dr.-BohrGasse in Wien-Landstraße steht und den Max F. Perutz Laboratories (MFPL) für Versuche dient.
Entwickelt hat die Neuheit ein Team mit österreichischer Beteiligung. „Es ist das erste Virtual-Reality-Setting für frei bewegliche Tiere. So präzise Systeme gibt es sonst nur für Menschen“, sagt Max Hofbauer, der mit John Stowers vom Institut für molekulare Pathologie (IMP) die Firma Loopbio gegründet hat, um Forscher mit Videotracking- und Bildverarbeitungssystemen vertraut zu machen.
Artefakte ausschließen
„Ein Problem als Gruppenleiter ist oft, dass man einzelne Doktoranten oder PostDocs hat, die sich mit einer Technik auskennen, sie betreuen und weiterentwickeln. Wenn die Leute das Labor verlassen, geht das gesamte Know-how verloren“, sagt Kristin TessmarRaible, die an den MFPL die Forschungsgruppe leitet. Deswegen schätzt sie die technische Betreuung des Loopbio-Teams, das aus den Forschungslaboren kommt, die genau diese Systeme der frei beweglichen virtuellen Realität (VR) entwickelt haben.
Das Problem bei Verhaltensversuchen ist häufig, dass man den vollen Bewegungsradius der Tiere nicht mit Kameras erfassen kann, oder dass in der freien Natur zu viele Parameter die Ergebnisse beeinflussen wie Wetter oder andere Tiere. Holt man die Tiere ins Labor, hat man wiederum das Problem, dass die hier präsentierte Umwelt eher unrealistisch für das echte Leben der Wildtiere ist.
Noch dazu muss man die meisten Tiere fixieren, um ein konkretes Testergebnis zu bekommen. Eine Immobilisation verfälscht eher das Verhalten sowie die Nervenantworten der Tiere. All die Probleme will das neue Setting umgehen, indem den Versuchstieren eine relativ natürliche Umgebung vorgespielt wird, in der sie sich frei bewegen können.
Was bevorzugen die Fische?
Die direkt in das Plexiglas projizierte Umgebung ändert sich unentwegt, je nach der Blickrichtung des Fisches, der in der Schale schwimmt. Nähert er sich dem virtuellen Pfosten, wird dieser graue Block immer größer. Schwimmt er durch eine virtuelle Türe, ändert sich die gesamte Umgebung, als ob er ein neues Biotop oder Aquarium gefunden hätte. Eva Scheuringer setzt seit März täglich mindestens einen kleinen Zebrafisch in die virtuelle Welt, um in ihrer Masterarbeit zu erkunden, welche Umgebung und welchen Wasserpflanzen-Bewuchs sie bevorzugen.
Ausgewachsene Zebrafische sind etwa fünf Zentimeter lang, sie würden schnell an die Begrenzung der Wasserschale stoßen und sich eingeengt fühlen. Daher nutzt das Team etwa ein Monat alte Jungtiere, die maximal einen Zentimeter lang sind, damit der „Wok“groß
bringt eine computergenerierte Umgebung in Echtzeit ins Sichtfeld des Beobachtenden. Die Perspektive ändert sich zeitgleich mit dem Blick des Probanden oder des Versuchstiers. Neben der Fisch-VR in den Max F. Perutz Laboratories bzw. an der Universität Wien gibt es in Wien auch eine virtuelle Welt für frei laufende Mäuse im Institut für Molekulare Pathologie (IMP), ein weiteres System für Fische an der Uni genug für natürliches Verhalten ist.
Neben dem Projektor, der das sich ständig ändernde Bild auf die Wasserschale wirft, sind auch Infrarot-Lampen rund um das Becken montiert. Dieses Licht in einer bestimmten Wellenlänge macht den Fisch gut sichtbar für die oberhalb montierten Kameras, die das frei schwimmende Objekt im Infrarotlicht automatisch verfolgen. „Anfangs hatten wir die Apparatur nicht unter einer Haube und sind verrückt geworden, wenn die Tracking-Kameras Staubkörnchen auf der Wasseroberfläche abgebildet haben statt den Fischen“, sagt Hofbauer. Nun läuft jeder Versuch im abgeschlossenen Kasten, ohne Staubeintrag oder Lichtstörung von außen. Die häufig stattfindenden Bauarbeiten am St.-Marx-Standort sind auch eine Herausforderung, da sie zu Wellenschlag führen können.
Aber wenn alles klappt, bringt das System mit nur wenigen Millisekunden Verzögerung die jeweils angepasste Sichtweise des Tieres auf den Bildschirm, also in die Wasserschale. Bei der Entwicklung des Aufbaus wurde jeweils getestet, ob sich das Verhalten der Tiere unterscheidet, wenn man echte Objekte in das Wasser stellt oder projizierte Objekte verwendet. „Uns hat sehr erfreut, wie ähnlich die Tiere in der Geschwindigkeit und den Winkeln und Kurven, die sie geschwommen sind, in der echten und der virtuellen Umgebung waren“, betont Tessmar-Raible. Derzeit werden nur Wildtypen in die Wasserschale gesetzt, also genetisch unveränderte Exemplare. Denn die ersten Studien sollen zeigen, was das normale Verhalten der Tiere ist, ob Ausreißer in den Daten einfach auf einen „komi- schen Fisch“zurückzuführen sind, oder Fehler im Setting und Artefakte auszumerzen sind.
„Wenn diese feinen Spielereien abgeschlossen sind, wollen wir auch Mutanten testen: Wie ändert sich das Verhalten, wenn bestimmte Schaltkreise im Gehirn verändert sind? Wie reagieren die Fische auf virtuelle Artgenossen?“, erzählt Tessmar-Raible. Ihr Fokus liegt auch auf Lichtrezeptoren, die es im Fischgehirn – aber auch bei Vögeln und Menschen – gibt: Was ist die Funktion der Lichtrezeptoren, die nicht im Auge sind, und wie beeinflussen sie das Gehirn?
Mutation wie beim Menschen
Eva Scheuringer plant in ihrer Arbeit auch eine Kollaboration mit der Med-Uni Wien, um medizinisch relevante Fischmutanten zu testen: Es gibt Genmutationen, die beim Menschen zu mentalen Defekten und Epilepsie im Kindesalter führen. An Fischen, denen diese Mutationen eingefügt werden, möchte sie untersuchen, wie sich die Informationsverarbeitung im Gehirn verändert – oder auch das Sozialverhalten der Fische.