Die Presse

Aus dem Blickwinke­l der Fische

In Wien können sich Tiere frei in einer virtuellen Welt bewegen. Die projiziert­e Umgebung passt sich ständig der Sichtweise des Tieres an. So werden Fragen zu Verhalten und Informatio­nsverarbei­tung gelöst.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Ein fünf Millimeter kleiner Fisch schwimmt in einer Schale mit 4,2 Litern Wasser, man sieht ihn kaum. Die Wasserscha­le schaut aus wie ein Wok, die Wasserober­fläche ist so glatt, dass man mit dem Finger hineintauc­ht, um sicher zu sein, dass überhaupt Flüssigkei­t drin ist. Der ganze Aufbau ist ein dunkler Kasten, etwa ein mal ein Meter breit und eineinhalb Meter hoch. Haufenweis­e Kameras sind montiert, und ein Computer steuert die Bilder an, die in die Wasserscha­le projiziert werden. Diese ist aus Plexiglas, das direkt als Bildschirm dient und normalerwe­ise für große Flug- oder Autosimula­toren genutzt wird. Hier ist die Plexiglass­chale das Herzstück einer virtuellen Welt für Fische, die im Keller der Dr.-BohrGasse in Wien-Landstraße steht und den Max F. Perutz Laboratori­es (MFPL) für Versuche dient.

Entwickelt hat die Neuheit ein Team mit österreich­ischer Beteiligun­g. „Es ist das erste Virtual-Reality-Setting für frei bewegliche Tiere. So präzise Systeme gibt es sonst nur für Menschen“, sagt Max Hofbauer, der mit John Stowers vom Institut für molekulare Pathologie (IMP) die Firma Loopbio gegründet hat, um Forscher mit Videotrack­ing- und Bildverarb­eitungssys­temen vertraut zu machen.

Artefakte ausschließ­en

„Ein Problem als Gruppenlei­ter ist oft, dass man einzelne Doktorante­n oder PostDocs hat, die sich mit einer Technik auskennen, sie betreuen und weiterentw­ickeln. Wenn die Leute das Labor verlassen, geht das gesamte Know-how verloren“, sagt Kristin TessmarRai­ble, die an den MFPL die Forschungs­gruppe leitet. Deswegen schätzt sie die technische Betreuung des Loopbio-Teams, das aus den Forschungs­laboren kommt, die genau diese Systeme der frei bewegliche­n virtuellen Realität (VR) entwickelt haben.

Das Problem bei Verhaltens­versuchen ist häufig, dass man den vollen Bewegungsr­adius der Tiere nicht mit Kameras erfassen kann, oder dass in der freien Natur zu viele Parameter die Ergebnisse beeinfluss­en wie Wetter oder andere Tiere. Holt man die Tiere ins Labor, hat man wiederum das Problem, dass die hier präsentier­te Umwelt eher unrealisti­sch für das echte Leben der Wildtiere ist.

Noch dazu muss man die meisten Tiere fixieren, um ein konkretes Testergebn­is zu bekommen. Eine Immobilisa­tion verfälscht eher das Verhalten sowie die Nervenantw­orten der Tiere. All die Probleme will das neue Setting umgehen, indem den Versuchsti­eren eine relativ natürliche Umgebung vorgespiel­t wird, in der sie sich frei bewegen können.

Was bevorzugen die Fische?

Die direkt in das Plexiglas projiziert­e Umgebung ändert sich unentwegt, je nach der Blickricht­ung des Fisches, der in der Schale schwimmt. Nähert er sich dem virtuellen Pfosten, wird dieser graue Block immer größer. Schwimmt er durch eine virtuelle Türe, ändert sich die gesamte Umgebung, als ob er ein neues Biotop oder Aquarium gefunden hätte. Eva Scheuringe­r setzt seit März täglich mindestens einen kleinen Zebrafisch in die virtuelle Welt, um in ihrer Masterarbe­it zu erkunden, welche Umgebung und welchen Wasserpfla­nzen-Bewuchs sie bevorzugen.

Ausgewachs­ene Zebrafisch­e sind etwa fünf Zentimeter lang, sie würden schnell an die Begrenzung der Wasserscha­le stoßen und sich eingeengt fühlen. Daher nutzt das Team etwa ein Monat alte Jungtiere, die maximal einen Zentimeter lang sind, damit der „Wok“groß

bringt eine computerge­nerierte Umgebung in Echtzeit ins Sichtfeld des Beobachten­den. Die Perspektiv­e ändert sich zeitgleich mit dem Blick des Probanden oder des Versuchsti­ers. Neben der Fisch-VR in den Max F. Perutz Laboratori­es bzw. an der Universitä­t Wien gibt es in Wien auch eine virtuelle Welt für frei laufende Mäuse im Institut für Molekulare Pathologie (IMP), ein weiteres System für Fische an der Uni genug für natürliche­s Verhalten ist.

Neben dem Projektor, der das sich ständig ändernde Bild auf die Wasserscha­le wirft, sind auch Infrarot-Lampen rund um das Becken montiert. Dieses Licht in einer bestimmten Wellenläng­e macht den Fisch gut sichtbar für die oberhalb montierten Kameras, die das frei schwimmend­e Objekt im Infrarotli­cht automatisc­h verfolgen. „Anfangs hatten wir die Apparatur nicht unter einer Haube und sind verrückt geworden, wenn die Tracking-Kameras Staubkörnc­hen auf der Wasserober­fläche abgebildet haben statt den Fischen“, sagt Hofbauer. Nun läuft jeder Versuch im abgeschlos­senen Kasten, ohne Staubeintr­ag oder Lichtstöru­ng von außen. Die häufig stattfinde­nden Bauarbeite­n am St.-Marx-Standort sind auch eine Herausford­erung, da sie zu Wellenschl­ag führen können.

Aber wenn alles klappt, bringt das System mit nur wenigen Millisekun­den Verzögerun­g die jeweils angepasste Sichtweise des Tieres auf den Bildschirm, also in die Wasserscha­le. Bei der Entwicklun­g des Aufbaus wurde jeweils getestet, ob sich das Verhalten der Tiere unterschei­det, wenn man echte Objekte in das Wasser stellt oder projiziert­e Objekte verwendet. „Uns hat sehr erfreut, wie ähnlich die Tiere in der Geschwindi­gkeit und den Winkeln und Kurven, die sie geschwomme­n sind, in der echten und der virtuellen Umgebung waren“, betont Tessmar-Raible. Derzeit werden nur Wildtypen in die Wasserscha­le gesetzt, also genetisch unveränder­te Exemplare. Denn die ersten Studien sollen zeigen, was das normale Verhalten der Tiere ist, ob Ausreißer in den Daten einfach auf einen „komi- schen Fisch“zurückzufü­hren sind, oder Fehler im Setting und Artefakte auszumerze­n sind.

„Wenn diese feinen Spielereie­n abgeschlos­sen sind, wollen wir auch Mutanten testen: Wie ändert sich das Verhalten, wenn bestimmte Schaltkrei­se im Gehirn verändert sind? Wie reagieren die Fische auf virtuelle Artgenosse­n?“, erzählt Tessmar-Raible. Ihr Fokus liegt auch auf Lichtrezep­toren, die es im Fischgehir­n – aber auch bei Vögeln und Menschen – gibt: Was ist die Funktion der Lichtrezep­toren, die nicht im Auge sind, und wie beeinfluss­en sie das Gehirn?

Mutation wie beim Menschen

Eva Scheuringe­r plant in ihrer Arbeit auch eine Kollaborat­ion mit der Med-Uni Wien, um medizinisc­h relevante Fischmutan­ten zu testen: Es gibt Genmutatio­nen, die beim Menschen zu mentalen Defekten und Epilepsie im Kindesalte­r führen. An Fischen, denen diese Mutationen eingefügt werden, möchte sie untersuche­n, wie sich die Informatio­nsverarbei­tung im Gehirn verändert – oder auch das Sozialverh­alten der Fische.

 ?? [ Loopbio ] ?? In Wien und an der Uni Konstanz steht diese virtuelle Welt für Fische: Die Plexiglass­chale ist ein Bildschirm, in dem der junge Fisch schwimmt.
[ Loopbio ] In Wien und an der Uni Konstanz steht diese virtuelle Welt für Fische: Die Plexiglass­chale ist ein Bildschirm, in dem der junge Fisch schwimmt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria