Scharang: Ist die Linke schuld am Aufstieg der Rechten? Ja!
sich zurück, trank eine Tasse Tee und wurde vom Gegner, dem das nicht entging, zum Kaffee eingeladen. Geschmeichelt nahm man die Einladung an. Der Gegner erging sich in Freundlichkeiten, die im Angebot zu friedlicher Koexistenz gipfelten. Die Sowjetunion, der noch nie Frieden gegönnt war, schlug ein. Sie war paralysiert von so viel Zuneigung, vergaß ihre Geschichte, vergaß das Manifest und verspielte die Gegenwart. Der Gegner lud sie noch zum Dinner, dann servierte er sie ab. Das war für die Kommunisten in aller Welt ein Schock; nicht so in Kuba und China. Mao brach mit der Sowjetunion, Castro nannte Chruschtschow eine Kakerlake.
Die Kommunisten in Westeuropa fanden keinen revolutionären Weg. Über sie zu rechten ist billig. Sie hatten, hervorgegangen aus dem bewaffneten Widerstand gegen Nazis und Faschisten, in Frankreich und Italien ein Drittel der Wähler hinter sich. Gern hätten sie mit den Sowjets in einem roten Paris und einem roten Rom ein Tänzchen gewagt, doch der Gegner verdarb ihnen den Spaß.
Er organisierte mit Ortsansässigen in der DDR, in Ungarn, in Prag Aufstände, welche die Sowjetunion unterband, überzeugt, man dürfe sich, was man eben erkämpft hatte, nicht aus der Hand schlagen lassen. Die Auswirkung auf die westeuropäische Linke war katastrophal. Sie hatte Erfahrung im nationalen, nicht aber im internationalen Klassenkampf und stand der Westpropaganda hilflos gegenüber, welche die europäische Linke in einem beispiellosen Propagandafeldzug anklagte, sie sei mitverantwortlich für die sowjetischen Interventionen und habe sich als Feind von Freiheit und Demokratie entlarvt.
Statt den Heuchlern im Gegenzug die frohe Kunde um die Ohren zu schlagen, sie könnten ihr, der Linken, mitsamt bürgerlicher Demokratie und Freiheit den Buckel hinunterrutschen, kuschte man vor den Anwürfen, distanzierte sich von der Sowjetunion, nannte sich Eurokommunist und halluzinierte einen historischen Kompromiss. Wer gegen sich selbst wütet, den braucht man nicht zu bekämpfen. Die großen kommunistischen Parteien Westeuropas sind verschwunden, als hätten sie nicht existiert. Noch nie war nach 1945 so viel Platz für die Rechte wie heute. Daran soll die Linke nicht schuld sein?
Das Manifest, dessen richtiger Titel lautet: Manifest der Kommunistischen Partei, ist auch für manche Leute nicht mehr verbindend, die sich Kommunisten nennen. Provokant an ihnen ist nur ihre Untätigkeit. Müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass Kommunistinnen und Kommunisten in Graz bei mehreren Wahlen 20 Prozent der Stimmen errungen haben, wittern sie Verrat an jenen Prinzipien, die ihnen nichts bedeuten.
In Österreich war die Kommunistische Partei nie revolutionär. Ihr Gegner war nicht der Kapitalismus, sondern die Sozialdemokratie. Die beanspruchte, seit ihrer Gründung, allein die Arbeiterklasse zu vertreten und so links zu sein, dass links von ihr kein Platz sei. Sie bekämpfte deshalb die Kommunisten mit jener Vehemenz, die sie in der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus nicht aufbrachte. Die Kommunisten, aufgerieben in diesem Gerangel, fanden keinen eigenen Weg – ein politisches und intellektuelles Versagen. Der Parteiapparat war ein Apparat ohne Partei, die Vorsitzenden waren und sind schon zu Lebzeiten Denkmäler stummer proletarischer Redlichkeit. – Der großmächtigen Sozialdemokratie wurde 1933 von der Bürgerpartei beschieden, dass das Parlament aufgelöst sei. Als einige Arbeiter sich das nicht bieten ließen und 1934 zu den Waffen griffen, konnte sich das Bürgertum einen Traum erfüllen: Es befahl der Artillerie, den weltweit fortschrittlichsten und schönsten sozialen Wohnbau, den Karl-Marx-Hof, zu beschießen. Die Jahre bis 1938, als Hitler einmarschierte, waren für das österreichische Bürgertum die einzige Zeit ungetrübten Glücks.
Daran versucht es heute anzuknüpfen, aber nicht aus Übermut, sondern weil es von den Verhältnissen dazu eingeladen wird. Ein junger Führer stellt sich an die Spitze der Bürgerpartei, unterwirft sie seiner Willkür, worauf ein Jubel nicht nur durch die Partei, sondern durch das ganze Land geht. Endlich ein Sieg des Austrofaschismus, der nicht von einem Hitler bedroht wird. Die Nachfolger der Nazis, die FPÖ, die noch vor Kurzem damit rechnen konnten, demnächst den Kanzler zu stellen, sind ratlos und werfen dem neuen jungen Führer vor, ihr Programm der Hetze und Flüchtlingshysterie zu kopieren. Sie irren. Der neue Mann stünde nicht an der Spitze, hätte er das Programm der FPÖ nicht überboten.
Und die Linke? Sie ist nicht nur nicht vorhanden. Die Sozialdemokratie, die behauptet, die einzige linke Kraft zu sein, schmiegt sich der Argumentation des neuen Führers an, ohne zu bemerken, dass der Kapitalismus sie nicht mehr braucht. Sie hat hingebungsvoll im Kalten Krieg ihre antikommunistische Pflicht erfüllt und die Gegner des Sozialismus in den Nachbarländern als Freiheitskämpfer gefeiert. Nun hat der Kapitalismus andere Probleme. Er funktioniert nicht mehr wie früher. Um nicht unterzugehen, bedarf er schärferer Maßnahmen. Die Situation verlangt autoritäre Regime.
Das Geniale an Marx und Engels ist, dass sie den Doppelcharakter der Klassengesellschaft darstellen, den Fortschritt, in dem der Rückschritt sich austobt, jener Rückschritt, aus dem heraus die Unterdrückten in einem gewaltigen Aufstand sich befreien. Robert Musil lässt in dem berühmten und hartnäckig missverstandenen Text über den Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn Ulrich, den Mann ohne Eigenschaften, sagen, ihn kümmerten nicht die Möglichkeiten, welche in der Wirklichkeit stecken, das sei Geschäft des Krämers; ihn interessiere die mögliche Wirklichkeit – eine revolutionäre Idee.
Die Linke entwirft eine mögliche Wirklichkeit, deren materielle Grundlage jener Reichtum ist, den Arbeiterin und Arbeiter zwar erwirtschaften, der ihnen aber vorenthalten wird. Damit der Reichtum allen zugutekommt, werden die Eigentumsverhältnisse geändert, vor allem wird die Welt vom Warencharakter befreit, jenem wahnhaften Zwang, der den Menschen zur Arbeitskraft und diese zur Ware degradiert. Der Mensch als Ware ist umgeben von Waren und empfindet seinen Zustand zunächst nicht als befremdlich. Erst bei der nächsten Überproduktionskrise, wenn er wieder die Arbeit verliert und abermals nicht der Unternehmer dafür verantwortlich ist, sondern die Krise, bemerkt er seinen Irrtum. Er hat sich für einen Menschen gehalten. Was aber, wenn es keine Nachfrage nach Menschen gibt?
Er erkennt, dass der Markt nichts ist, was ihm frommt. Er ist Teil einer Manövriermasse, die je nach Bedarf dahin und dorthin geschoben wird. Der Kapitalist schiebt, der Arbeiter wird geschoben. Deshalb revoltiert er und schafft ein Gemeinwesen, in dem es ausgeschlossen ist, dass einer als Gegenstand behandelt wird. Statt der Marktwirtschaft entsteht die Planwirtschaft, in China die sozialistische Marktwirtschaft. Der Kapitalismus wird angetrieben von Konkurrenz, dem Niederringen des einen durch den anderen. Ein vernünftiger Plan, der verhindert, dass einer den anderen bedroht, kann nicht entstehen. Die Planlosigkeit wird lebensgefährlich, wenn die Produktivität sinkt und ein Konkurrent, um noch Gewinn zu machen, den Widersacher nicht überflügelt, sondern vernichtet. Das findet zurzeit statt. Die Konfusion der amerikanischen Politik ist der Vorhang, hinter dem das planlose wirtschaftliche Gemetzel stattfindet. Das Publikum sieht nur den Präsidenten und ergötzt sich.
Wo Vernunft sich einen Platz erkämpft, wird geplant. Unsoziale Verhältnisse werden im Leben und in der Arbeit abgeschafft. Für schwierige Projekte wie die Umwandlung der Universitäten zu Stätten geistigen Lebens bedarf es mehrerer Fünfjahrespläne. Die Verlegung des Großglockners an den Neusiedler See ist gemessen daran ein Kinderspiel. Planung ist das Um und Auf linker Politik. Sie ist der sorgsame Umgang mit den Bedürfnissen des Einzelnen und des Ge- meinwesens. Sie achtet darauf, dass der Einzelne nicht dem Gemeinwesen, dieses nicht dem Einzelnen schadet. Planwirtschaft ist Denkarbeit. Denken führt aber nicht nur zu vernünftiger Arbeit, sondern auch zu produktivem Streit.
Eine Linke, die nicht zerstritten ist, ist keine. Das liegt in der Natur der Sache, und die besteht in Neuerung, dem Gegenteil von Erneuerung. Neuerung ist die mögliche Wirklichkeit. Vorschläge, wie diese sein soll, gibt es sonder Zahl. Jeder Vorschlag ein Streitfall. Deshalb wirkt die Linke zerstritten. Das ist ihre Stärke. Sie ist aber auch intelligent genug, zu wissen, dass sie nur überlebt, wenn sie sich, falls notwendig, zum gemeinsamen Handeln entschließt. Sie steht dem konservativen Block gegenüber, der sein dumpfes Glück in der Erneuerung findet, in der Wiederholung dessen, was sich bewährt hat. Die Dummheit des Konservativismus ist der Grund, warum im Kapitalismus der technische Fortschritt ein Versprechen bleibt, das der Ingenieur macht, der Fabrikant aber bricht. Die wenigen Erfindungen der vergangenen 200 Jahre werden permanent geringfügig verändert und als Neuheiten verkauft. Das Immergleiche in Industrie und Kulturindustrie empfindet der Konsument als geistige Entlastung, die ihn verblöden lässt. Auf den Kunden, einst ein Kundiger, der sich nichts andrehen lässt, folgt der Trottel, der sich freut, wenn er betrogen wird.
Das Kommunistische Manifest ist kein Parteiprogramm. Es ist eine Hilfe für linkes Denken und Handeln, kein Rezept. Es lädt nicht zum Palavern ein. Es entdeckt den revolutionären Weg als möglich und richtig. Man geht diesen Weg, oder man lässt es bleiben. Der Nichtkommunist ist für den Revolutionär ein angenehmerer Geselle als der Kommunist, der auf halbem Weg kehrtmacht. Das Manifest ist auch der Beginn sozialistischer Aufklärung. Mit ihm fängt zwar eine neue Epoche an, doch deren Antrieb, das kritische Denken, dämmert kraftlos dahin.
Es bekommt zu wenig Licht, denn es kommt aus dem Schatten der bürgerlichen Aufklärung nicht heraus. Die schuf in Jahrhunderten mit herrlichen Werken und schrecklichem Schund das theoretische Fundament der Französischen Revolution, auf dem die Losung prangte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sie galt nur für die Bürger, die in ihrem Wahn, die Herren der Welt zu sein und für die Menschheit zu sprechen, darauf bestanden, dass die Losung für alle gelte. Die Aufklärung ist zerfressen von der Lüge, allgemeingültig zu sein, wo sie doch nur bürgerlich ist. Nur die Kritische Theorie – Adorno, Horkheimer, Benjamin – wies unermüdlich auf den Klassencharakter der Aufklärung hin. Sie wird totgeschwiegen. Die bürgerliche Revolution ist verloren, die bürgerliche Aufklärung hat gesiegt.
Sie erhebt sich als eine über Jahrhunderte angehäufte gigantische Müllhalde aus Meisterwerken und geistigem Abfall. Die sozialistische Aufklärung, an der Spitze das Kommunistische Manifest, steht als neue Qualität kampflustig, aber auch ratlos vor diesem Ungetüm und weiß nur eins: Sie hat nicht Jahrhunderte Zeit, diese Halde zu beseitigen, um sich dann entfalten zu können. Das Tempo gesellschaftlicher Umstürze hat seit der Französischen Revolution rasant zugenommen. Ihr folgte die sozialistische in Russland, welche sich bald von anderen Revolutionen flankiert sah. Es fehlte die Zeit, um eine sozialistische Aufklärung zu entwickeln. Die Linke brach, ehe sie geschlagen wurde, aus eigener theoretischer und ideologischer Schwäche zusammen.
Die Niederlagen der Linken, denen die Rechte ihren Aufstieg verdankt, sind verdient. Sie ereigneten sich innerhalb weniger Jahrzehnte, wodurch das Desaster besonders groß erscheint. Andrerseits konnte in der kurzen Zeit die Linke nur an der Oberfläche verletzt werden. Die Bourgeoisie wurde jahrhundertelang vom Feudalismus in den Staub getreten, bis sie nur mehr Dreck spuckte. Die Linke spuckt Blut. Findet sie sich mit dem Schicksal ab, statt den Aufstand neu zu organisieren, wird sie untergehen. Im anderen Fall wird bald ein Neues Kommunistisches Manifest kursieren.
Auf den Kunden, einst ein Kundiger, der sich nichts andrehen lässt, folgt der Trottel, der sich freut, wenn er betrogen wird. Wer, wie die Linke, gegen sich selbst wütet, den braucht man nicht zu bekämpfen. Noch nie war nach 1945 so viel Platz für die Rechte wie heute.