LYDIA MISCHKULNIG
Geboren 1963 in Klagenfurt. Schriftstellerin in Wien. Romane: „Halbes Leben“, „Hollywood im Winter“, „Schwestern der Angst“, „Vom Gebrauch der Wünsche“, zuletzt der Erzählband „Die Paradiesmaschine“(Haymon Verlag). 2017 VezaCanetti-Preis.
Eine Insel, die Regeln sind strikt. Erklärungsliteratur über Japan gibt es zuhauf. Oberflächenbeschreibung und Ordnungsgrößen einer Kultur stehen zur Diskussion. Unterschiede und Ähnlichkeiten. Urlaub von der eigenen Kultur lässt sich auf der weit entfernten Insel in einer engmaschig gemanagten Gesellschaft mit fast erreichter Vollbeschäftigung, wenn man von den Problemen mit der Jugend absieht, im Gefühl der Sicherheit machen. Die Häfen, für 250 Jahre geschlossen, sind seit 1853 offen. Das Land hat die kolonialistische Epoche verdaut und erzeugt nun friedlich wie viele Festlandkulturen mit ihren Konsumgesellschaften Müll. Im besonderen Atommüll. Die Kulturindustrie arbeitet an der Verwertung der Kultur durch Klischeeverbreitung. Die japanische Totalitarität hat ihren Untergang erlebt wie die europäische. Auch die japanische Kultur hat nach Adorno ihr Misslingen bewiesen. Vernichtung und Mobilisierung zur Vernichtung haben die Fratze der Kultur gezeigt. Wie soll man verfahren? Sich beteiligen oder entziehen? Wo lässt sich in Japan heute „überwintern“, zwischen Hello Kitty und Fukushima. In der Wissenschaft und in der Kunst? Oder gelingt es, in Fiktion zu überdauern und aus ihr Wirklichkeit zu schürfen, die neben dem wirklichen Japan und seiner Erfindung von Japan koexistiert.
Wirklichkeit ist so wertvoll wie Gold. Man kann mit ihr eine Währung errichten, die Verlässlichkeit schafft. In der Kunst und im Besonderen in der Literatur ist man auf die Wirklichkeit angewiesen, die in der Kunst das kulturelle Erbe und seine Geschichtlichkeit aufbewahrt. Wie sieht diese Wirklichkeit in Fiktion aus?
In japanischer Währung wurde ich bezahlt, um über europäische Wirklichkeit zu sprechen, aus der ich erwachsen bin und deshalb davon erzählen sollte. Mein Ich spaltete sich in ein inneres und ein äußeres Ich, und sie gerieten in einen Streit miteinander, weil das eine Ich dem anderen sagte: Du spielst dich ja nur als Expertin deiner europäischen Herkunft auf, du erzählst ja nur nach, was dir beigebracht worden ist. Wer bist du denn selber? So beschloss ich, in Japan als eine Nacherzählerin aufzutreten, und zählte die Daten in der Geschichte auf und die Geschichte selber, um einen kleinen Teil von Europa zu erklären und damit von mir, wie ich meinte. Ich bin dann nur auf Literatur gestoßen, die Wirklichkeit erzählt und Wirklichkeit ist, die ich mitgebracht hatte, um von den Beispielen, den Blickwinkeln auf ein Europa zu verweisen, das meines beschreiben könnte, weil es mich zusammensetzt.
Roland Barthes hat in General Nogis letztem Porträt, das dieser einen Tag vor seinem Seppuku anfertigen ließ, die Leere in dessen Gesicht beschrieben und mit dem Zeichen der Leere gespielt, eine japanische Ikone zur Wirklichkeit zu bringen. Er hat es unterlassen, ein wenig gründlicher zu forschen, um auf Nogis Eitelkeit einzugehen, die Akutagawa in seiner Erzählung „Der General“aus japanischer Sicht und Kritik hervorstreicht.
Der französische Semiotiker beschreibt den Nahrungsstrom des Pachinko-Glücksspiels, der im Glücksfall einen Shitstorm durchfallender Metallkugeln geradezu defäktiert. Eine gründlichere Recherche fördert zutage, dass diese Kugeln eingeschmolzenes Kriegsgerät sind. Die Besatzungsmacht der Amerikaner hat Panzer und Kanonenrohre, Flugzeugschrott und Waffen in eine Glücksmunition für Automaten verwandelt. Das ist in Wirklichkeit auch Interkulturalität. – Meine Wirklichkeit ist eine Wirklichkeit, die mir interkulturell erscheint, weil jedes Du auf mich strukturell umbildend wirkt, und die ich in der Kunst durch spielerische Methoden umzumünzen versuche. Wer ist denn in meinem Gebiet in der Lage, Wirklichkeit zu repräsentieren, wer hat sie erzeugt, welche ist gültig, als solche anerkannt zu werden, ohne dass sie sich in Beliebigkeit und Subjektivität entzieht? Ich spreche also von kulturellen Strukturen und fasse sie zu einem System zusammen, dessen Symptomträger ich bin.
Die Essays von Jean Amery´ heben Holocaust-Wirklichkeit auf und bannen und lösen den Schrei des Überlebenden, ohne ihn zu illustrieren. Franz Kafka erzeugt mit der Erzählung „In der Strafkolonie“eine Wirklichkeit, die eine Foltermaschine vorstellt, die ihre Grausamkeit kommensurabel für den Leser macht, weil er nicht in die moralische Beurteilerrolle, zum Richter, gedrängt wird. – Ich habe mit diesem Text das beschworene albtraumhafte „Kafkaeske“verstanden, das ein Kopfschütteln erzeugt, welches die Geschichte provoziert, weil es mich mit einer Ahnung von der unvorstellbaren Grausamkeit der Wirklichkeit in Berührung bringt. Das alte Prag, das jüdische Prag, das deutschjüdische, deutschjüdischfeindliche Prag der k. u. k. Monarchie, ist in meiner zerebralen Geografie ein dreidimensionales Geflecht aus Zeiten und Örtlichkeiten, an denen ich immer absent gewesen sein werde, und trotzdem zählen sie zu meiner Kultur.
Auf den Feldherrn Nogi stieß ich in Japan, als ich gewöhnliche japanische Gänsespiele studierte, deren Ästhetik mich bezauberte und gleichermaßen irritierte. Holzschnittästhetik und Szenen der Kriegsgrausamkeit gestalteten die Narration vom Sieg der Japaner im Russisch-Japanischen Krieg am Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem bebilderten Brettspiel. Das Zielfeld lag in der Mitte der als Spirale gestalteten Lauflinie. Im Zielfeld war der japanische Feldherr mit dem russischen Verlierer in klarer Linie und kolorierten Flächen cartoonhaft abgebildet.
Ein dokumentarisches Foto der Kapitulation der Russen am Ziel hätte Nogi realistisch und eindrucksvoller für damalige Zeiten repräsentiert als die üblichen Zeichnungen. Meine Recherche ergab, dass das Foto von der Kapitulationserklärung der Russen an die Japaner deshalb nicht existiert, weil in der Wirklichkeit dieses historischen Moments kein Fotograf anwesend sein durfte – da man den besiegten Feind mit einer realitätsgenauen Wiedergabe nicht demütigen wollte. Die Grausamkeiten des ersten modernen Krieges des 20. Jahrhunderts gipfelten in einer diplomatischen Barmherzigkeitsgeste. Interkulturell wirkende Kultur. Die Wirklichkeit reißt zum Kopfschütteln über die Kultur hin.
Keine Kultur verfügt über einen Quadratmeter, der nicht auf Barbarei begründet sei, belegt die Dialektik der Aufklärung eine These nach Adorno und Horkheimer. In meinem Lehrjahr in Japan brachte ich mir und den Studenten die Figur des „autoritären Charakters“nahe. Wo ist die Grenze zwischen Gehorsam und Unterwerfung für den Einzelnen in der Gesellschaft und ihrer Kultur zu ziehen? Auf mein Wissen von Wirklichkeit greife ich zurück und formuliere Fragen, um zu prüfen, ob ich überhaupt in die Zone des Verstehens gerate.
Einander zu verstehen ist eine komplizierte Sache. Es traf mich wie ein Blitz, als wir „Die Verwandlung“lasen. Kafkas Erzählung war den meisten Japanern im Hörsaal unbekannt. In der Tat waren die Studenten auch mit der Person Kafkas nicht vertraut. Von sei- nem Unbehagen in der Familienkultur und seiner k. u. k. Pragkultur war zu unterrichten. Schon nach der Lektüre des ersten Absatzes der Erzählung erwartete ich ein Zeichen des Entsetzens auf den Gesichtern: als der Handelsreisende Gregor Samsa nach seinem Aufwachen entdeckt, dass er sich über Nacht in ein Ungeziefer verwandelt hat. Vielleicht war das Ungeziefer ein zu schwaches Wort auf Englisch, ich übersetzte es mit „buck“oder „vermin“. Vielleicht war es aber auch der fehlende Kontext der Nürnberger Rassengesetze. Oder vielleicht das fehlende Wissen, dass Menschen als Ungeziefer bezeichnet zur Vernichtung geführt wurden, was diese 1912 geschriebene Erzählung in ihrer dunklen Macht und klaren Sprache von heute aus betrachtet vorausahnte.
Jedenfalls wollte ich nach einem Semester der Theorie und Literatur zum autoritären Charakter die Leseerfahrung der japanischen Studenten nach dem ersten Absatz des im Vaterkonflikt und im Konflikt mit einer Spießerkultur liegenden Helden hören. Kurz, ich suchte eine Bestätigung für meine Begeisterung an dieser Erzählung, und ich erwartete das Überspringen des Funkens vom Ich auf das Du, das in seiner vielfältigen Splitterung seine Vereinigung im Funken des Einverständnisses sucht. Eine Zustimmung, dass es sich um einen ungeheuerlichen Erzählschnitt handelte, den Kafka für diese Geschichte um Schuld, Scham, Unterwerfung und Ohnmacht gegenüber der sich herstellenden Ordnung gewählt hat.
Vielleicht war meine Frage nicht eindeutig genug formuliert, als ich sie von meinem Flussufer zum anderen hinüberrief, was denn die Bedeutung einer solchen Verwandlung für eine Geschichte in Gang setzte. Vielleicht rauschten unendlich viele Erzählflüsse ineinander schwappend und sich miteinander vermischend zu laut. Vielleicht waren meine Worte untergetaucht und von der Strömung mitgerissen und deshalb nicht genau auf der anderen Seite gegenüber an Land gespült, sondern weiter unten im Geäst der Uferpflanzen verfangen aufgefunden worden? Dieses Du war eine ganz andere Generation, und das Ich an meinem Flussufer konnte die Gesichter sehen, die an meiner Frage herumrätselten und sich fragten, worin denn das Problem mit der Verwandlung eines Menschen in ein Ungeziefer eigentlich bestehe?
Die Studenten waren klug und verspielt, und so sandten sie mir ihre Antwort zurück. Die alptraumhafte Regression von Mensch zu Insekt, der Verlust der Sprache und der Sinne, bis nur mehr vermoderter Unrat als Nahrungsquelle dient, die Abfindung mit der Situation und dem Tod, nachdem der Vater die Äpfel der Sünde nach dem Insekt geworfen hatte, bis alles in schuldloser achselzuckender Alltäglichkeit weiterlief, versetzten die Studierenden nicht in Fassungslosigkeit. Das Konzept von „buck“und „vermin“war im Fluss der Erzählung auf dem anderen Ufer ganz anders angekommen. Man verstand, wie ich verstand, das Insekt nicht als ekelerregendes Ungeziefer, sondern fragte sich, ob es nicht möglich wäre, Gregor Samsa als gepanzerten, insektoiden, schillernd schönen Rosenkäfer zu sehen, der als Prinz der Familie hervorginge und stolz auf seine Leistungen als Familienerhalter sein könne, statt an Herzschwäche zu sterben.
Wie könnte die Geschichte dann erzählt werden und weitergehen?
Ich redete von der Erbsünde, der Schuld und dem biblischen Paradies mit seinen Sündenfrüchten, den kulturellen jüdischchristlichen Konzepten. Als ich vom Gottessohn berichtete, der von einem Esel und einem Ochsen gewärmt, von einer Jungfrau geboren und von seinem barmherzigen Vater ans Kreuz genagelt wurde, verdrehten die Studierenden die Augen und begannen fassungslos die Köpfe zu schütteln – ganz gegen die kulturelle Konvention, eine steinerne Miene zu bewahren.
Japan war aus den Tropfen eines Urschlicks entstanden, bis Amaterasu herausgebildet war, eine Sonnengöttin, von der die Kaiser und alle Japaner abstammen. Auch ich schüttelte den Kopf. In Japan entsteht Schuld nicht durch Sünde, sondern durch Dankbarkeit, die nicht erwiesen werden kann. Sünde
Fortsetzung Seite IV
Es traf mich wie ein Blitz, als wir „Die Verwandlung“lasen. Die Regression von Mensch zu Insekt versetzte die Studierenden nicht in Fassungslosigkeit. Über mein Lehrjahr in Japan. Die Schuld. Die Scham. Die Sünde. Die Unterwerfung. Die Ohnmacht. Die Barbarei. Die Barmherzigkeit. Was Japan zur Subjektbildung meiner Person beitrug. Von Lydia Mischkulnig
ist Schuld, und in Japan sind Schulden Schuld. Eine buchhalterische Kultur, wie meine. Samsa revoltiert nicht, und in seiner Hingabe an das Schicksal stirbt er vor den Augen des Lesers in seinem achselzuckenden Kontext. Kunstvoll in der Ästhetik führt Kafka die Spießerkultur vor. Scham und Schuld schwimmen auf den Wellen des Flusses, an dessen Ufer wir nach unseren Zeichen und deren Bedeutungen fischen. Ein strahlender, schillernder Rosenkäfer, wäre er seiner Selbstverliebtheit wegen verloren?
Die Prägungen unserer Kulturen, so Ruth Benedict, sind die Konzepte von Schuld und Scham. Interkulturell kommen wir dann zu einer Überwindung? Ich stellte mir den Gregor Samsa wie einen liebreizenden Prinzen Genji in Gestalt eines Käfers vor, dessen Begierde keine Grenzen kennt und bis ins Verbrechen der Kindesentführung genussvoll ausufert, während Gregor als verklemmter Käfer und Schandfleck über das Bildnis einer Venus im Pelz krabbelt. Wie könnte die Geschichte eines strahlenden Gregor verlaufen? Der Bogen reicht von der Traurigkeit bis zur Kategorisierung als Seifenroman.
Ich merkte, wie ich in eine Verteidigung der Geschichte rutschte, mich von einem japanozentrischen Blick in die Enge getrieben wähnte. Ich überprüfte mein Ich-System, das ich als Analyseebene für die Interkulturalität heranziehen wollte. Wäre ich ein japanischer IchSager, dann würde ich mit dem Ich eine sprachliche Form abgeben, die meinen Platz in der Gesellschaft beschreibt, ohne viel beschreiben zu müssen, wurde mir gesagt. Wie lautet das Ich eines Insekts?, fragte ich die Studenten. Wie kann man das Ich eines Handelsreisenden in das Ich eines Insekts in der japanischen Sprache mutieren lassen? Das Ich Gregor Samsas taucht nur in der direkten Rede auf, ansonsten bleibt der Held personal und changiert in einer nüchternen Allgemeinbeobachtung auktorialer Ordnung. In meiner Sprache Ich zu sein bedeutet, dem Ich eine Form zu geben, die alles, was das Ich behauptet, beweisen muss, zu sein.
Gregor Samsa kommt in der dritten Person Singular vor, weil seine Geschichte erzählt werden kann und nicht sein Innenleben aus der Ich-Perspektive bewiesen werden soll. Das Ich würde das Thema besetzen und die Geschichte zur Subjektivierung Gregors ausbauen. Doch Kafka ging es um die Entsubjektivierung, die Entmenschung Gregors. Wenn die Geschichte begänne mit: „Als ich eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“, dann habe ich mich als Ungeziefer zu zeigen, und meine Überzeugung kann bezweifelt werden. Denn es gilt für das Ich ja, seit Rimbaud: „Ich ist ein anderer.“
Würde Prinz Genji aus der Subjektive beschrieben werden, wie würde er sich fühlen beim Blick in den Spiegel? Nach der Entführung des minderjährigen Mädchens? Wie ein österreichischer Kinderschänder?
Ich blicke in dieses Wasser der Interkulturalität. Der Blick in den Spiegel in den Schreinen und Altärchen, die ich oft besuchte, bedeutet Reinigung für den Gläubigen. Der reflektierende Strahl stellte die Verbindung zur Strahlkraft der Sonne her, eine Verbindung zwischen den Menschen und der Sonnengöttin Amaterasu. Einst wurde sie mit dem Reflexstrahl des heiligen reinen Spiegels aus ihrem Versteck einer Höhle gelockt. So wurde es endlich wieder Licht über Japan.
Ich stelle mir vor, in einen Spiegel der Reinigung zu schauen. Ich sähe nicht mein Spiegelbild, also dieses Ich aus Ichs, sondern das Rundherum meiner Umgebung. Daran könnte ich ablesen: Ich gehöre dazu, ich bin in der Ordnung auf einem Platz. Die reflektierende Kraft des Spiegels, als ein Gruß von der Sonne, deren Strahl mich trifft, erinnert mich an meine Zugehörigkeit. Ist das ein Trugbild? Unser Narziss verliebt sich darein. Trugbild und Spiegelbild sind nicht das Gleiche, Blick und Lichtstrahl gehören zusammen, um die Dinge auseinanderzuhalten. Eine Welle der Assoziationen hat im japanischen Spiegel den Gedankenstrom meiner interkulturellen Ichs zum Verschwimmen gebracht.