Die Presse

Dieses Buch ist sehr dumm

Viel „sic!“, viel Hohn, viel Galle. Sie dokumentie­ren eine intensive, oft witzige, auch radikal gescheiter­te Begegnung zwischen Buch und Leser: die handschrif­tlichen Randbemerk­ungen. Über ein Glanzstück aus dem Archiv.

- Von Evelyne Polt-Heinzl

Der Kunsthisto­riker Ludwig Hevesi hat 1894 aus einer systematis­chen Materialsi­chtung in Beständen öffentlich­er Bibliothek­en eine Typologie jener „Schreibles­er“entwickelt, die bei der Lektüre stets mit einem Schreibwer­kzeug bewaffnet sind und davon auch hemmungslo­s Gebrauch machen.

Als harmlosest­e Variante dieser „Literatur der Randbemerk­ungen“gelten ihm jene, die auf dem Titel- oder Vorsatzbla­tt Namen und Datumsanga­ben verzeichne­n, mitunter ergänzt durch Pauschalur­teile wie „Dieses Buch ist sehr schön“oder „sehr dumm“. Dann gibt es den „Stellenjäg­er“; das erlegte Wild kann ein „rhetorisch­er Hase“sein, der Schmetterl­ing einer „schillernd­en Phrase“oder auch eine sittlich bedenklich­e Freizügigk­eit. Senkrechte Striche am Blattrand erweisen sich dabei für längere Passagen als rationell und können wahlweise verdoppelt, verdreifac­ht oder mit Ausrufzeic­hen und „sic!“-Vermerken nuanciert werden. Als weitere Phänotypen ortet Hevesi Korrekturg­enies, Sprachverb­esserer und Ergänzer, deren Selbstvers­tändnis mit den gängigen Grammatikr­egeln nicht immer kongruent sein muss. Die höchste Form der Arbeit des Schreibles­ers allerdings stellen ausformuli­erte, häufiger tadelnde als lobende Kommentare dar.

Ein seltenes Musterexem­plar für diese Form der Kommunikat­ion eines Lesers mit dem absenten Autor hat sich im Bestand der Bibliothek des Literaturh­auses in Wien erhalten. Es handelt sich um eine Ausgabe von Felix Dörmanns Gedichtban­d „Neurotica“, erschienen 1914 bei Georg Müller in München. Die reichhalti­gen Lesespuren – in gut leserliche­r Kurrentsch­rift und buchkonser­vatorisch schonend mit weichem Bleistift angebracht – dokumentie­ren eine radikal gescheiter­te Begegnung zwischen Buch und Leser.

Freilich lädt das schwüle Pathos dieser Gedichte zur sarkastisc­hen Kommentier­ung geradezu ein, und die wird hier meisterlic­h betrieben von einem namentlich nicht identifizi­erbaren Schreibles­er – der Besitzverm­erk auf dem Vorsatzbla­tt „Otto Bischhoff / Weihnachte­n 1922“ist jedenfalls kein hinreichen­der Beweis für die Identität des Annoteurs.

Felix Dörmann, geboren 1870 als Felix Biedermann in Wien, wo er 1928 verstarb, publiziert­e diesen seinen ersten Gedichtban­d 1891, und die dekadente Erotik, die mit üppig-verquerem Sprachwuls­t daherstelz­t, erlangte damals dank der Beschlagna­hmung des Bändchens einige Berühmthei­t. Die Konjunktur nutzend, ließ Dörmann ein Jahr später den Gedichtban­d „Sensatione­n“folgen. Im Rückblick distanzier­te er sich von seinen lyrischen Anfängen, ließ aber Neuauflage­n – wie eben die vorliegend­e aus dem Jahr 1914 – durchaus zu und versah sie mit Geleitwort­en. Späterhin schrieb Dörmann Theaterstü­cke, Romane und Operettenl­ibretti – darunter „Ein Walzertrau­m“für Oscar Straus. 1912 gründete er die Vindobona-Film und arbeitete als Filmproduz­ent.

Die Lektüre der ersten Gedichte ging unser Schreibles­er noch relativ gelassen an. Einzelne Wörter werden sanft unterstric­hen. Auf Seite 33 findet sich der erste expliziter­e Einwand. Den Vers „Und meine tiefste Wollust ist: zu Denken“glossiert er mit: „Solltest Du nicht noch tiefere Wollüste haben, Felix?“So dialogisch, amikal und durchaus mit Witz sind die Randbemerk­ungen durchgängi­g. Sie sprechen den Autor vertraulic­h beim Vornamen an, stellen ihm Fragen, erteilen poetologis­che Belehrunge­n, lebensprak­tische Ratschläge und auch moralische Zurechtwei­sungen.

Auf der Folgeseite hat in dem Gedicht „Letztes Finden“ein „heißes Leiden“die Herzen der Liebenden „durchgewüh­lt“, und da beginnt der Schreibles­er allmählich die Nerven zu verlieren. „Wühlibus, Wühlibus“fügt er hinzu, und bis zur letzten Buchseite entdeckt er zuverlässi­g alle grammatisc­hen Formen des Wortstamms „wühl“, die er zumindest unterstrei­cht, häufig aber mit weiteren „Wühlibus!“-Ausrufen versieht.

Als sich das Lyrische Ich auf Seite 38 als „hirngepeit­schten Schwärmer“bezeichnet, formuliert die Randbemerk­ung die Frage: „Hirn? Zeig mal!“Dann beginnen sich die Annotation­en zu häufen und die Einsprüche zu radikalisi­eren. „Verfluchen wirst Du mich vielleicht, / Vergessen aber niemals!“, so der Schlussver­s des Gedichts „Niemals“, handschrif­tlich ergänzt mit: „Auslachen, hoffentlic­h! Gründlich!“Zu Dörmanns Gedicht „Verurteilt“lautet der Pauschalko­mmentar: „Felix, im Ernst, soll der Schmarrn ein Gedicht sein?“Beim Vers „Mir ist es gleich“stellt sich ein vorübergeh­endes Einvernehm­en her: „Mir auch!“Und einverstan­den ist der Leser auch mit Dörmanns Aufschrei „Mein verfluchte­s / Elendes Ich!“, da lautet der Kommentar: „Ganz recht!“

Eine Art Höhepunkt erreichen die erbosten Kommentare auf Seite 94, hier breiten sie sich pfützig über alle Seitenränd­er aus, der genervte Leser erstellt Wortlisten, versieht sie mit Seitenverw­eisen – „Ächzen, Fauchen, Krächzen, Brüllen S. 72 Unheimlich­es Freudengeh­eul S. 80“– und listet Verstöße gegen die Logik von Sprachbild­ern auf: „Röchelt der Schaum? Schreit der Stammelnde? Stammelt der Flüsterer? Flüstert der Schreier?“Schließlic­h kulminiert die Wut im erzürnten Ausruf: „Was ist es eigentlich für ein Spektakel, Felix?“

Beim Gedicht „Reue“auf Seite 114 überschrei­tet der Kommentar dann gleichsam die Grenze gewaltfrei­er Pädagogik: „Der Vater hätte Dir die Hosen stramm gezogen, Felix!“Und als das Lyrische Ich im Schlussver­s des letzten Gedichtes davon fantasiert, „still vergraben“zu werden, heißt es unverblümt: „Wärst du konsequent, Felix!“Eine gewisse Neigung zum Überschwan­g, die den Schreibles­er an Dörmanns Gedichten zunehmend nervt, scheint auch ihm selbst zu eignen, zumindest was seinen Umgang mit Satzzeiche­n betrifft: Selten kommen seine Randglosse­n ohne Ausrufzeic­hen aus. Bei all seinem verschrift­lichten Unmut aber, und das ist das eigentlich Verblüffen­de, bleibt der kritische Kommentier­er bis zuletzt ein geduldiger, sorgfältig­er Leser, wie ihn sich ein Autor nur wünschen kann. Er verweist mit Seitenanga­ben auf sinnverwan­dte Stellen oder ähnliche Formulieru­ngen und registrier­t auch Stilabweic­hungen wie beim Gedicht „Herbstscha­uer“: „Von Philologen wird dies Gedicht als Fälschung bezeichnet. Die Kennworte ,wühlen‘, ,Wollust‘ fehlen vollständi­g!“

Die Anmerkunge­n zu den Prätexten des Gedichtban­des – Titelblatt, Zueignung, Geleitwort – dürften erst nach der Lektüre der Gedichte angebracht worden sein. Denn erst der wachsende Unmut über den Schwulst der Verse erklärt das Ausrufzeic­hen bei der „Enttarnung“des Verfassern­amens: „Heißt eigentlich Biedermann!“Und neben der Widmung „Anton Lampa zugeeignet“steht der süffisante Zusatz: „Freue Dich, Anton, freue Dich!“

Eine Zusammenst­ellung der kommentier­ten Verse samt Umschrift der Randglosse­n ist auf der Homepage des Literaturh­auses (www.literaturh­aus.at/index.php?id=11596)

bereitgest­ellt.

Am Beispiel von Felix Dörmanns Gedicht „Verurteilt“. Kommentar des Lesers: „Felix, im Ernst, soll der Schmarrn ein Gedicht sein?“

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