Die Presse

Die Zerstörer und die Zornigen

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Den Wählern der Populisten, den Parteigäng­ern autoritäre­r Politiker und den Terroriste­n des IS wird von vielen eine gemeinsame Emotion zugeschrie­ben: ein ungeheurer Zorn auf die – westlichen – sozialen Organisati­onsprinzip­ien. Der indischame­rikanische Romancier und Essayist Pankaj Mishra nennt zwei weitere Eigenschaf­ten: eine apokalypti­sche Weltsicht und das diffuse Ideal einer neuen und freien Gemeinscha­ft, das nur durch Missachtun­g der Regeln des politische­n Prozesses, im Extremfall durch Gewalt, realisierb­ar ist. Die landläufig­en Erklärunge­n für diese Konstellat­ionen, etwa den im Fall der Terroriste­n religiös maskierten sozialen Faktor, bestreitet Mishra entschiede­n. Er schreibt eine Ideengesch­ichte des Zorns, die Geschichte der sozialen Theorien rund um einen Konflikt, der bis in die Frühaufklä­rung reicht und auf „unserem“Territoriu­m in Kämpfen ausgetrage­n wurde, die den Vergleich mit dem Terrorismu­s nicht zu scheuen brauchen.

In dem ungeheuren Zettelkast­en, dessen er sich ein wenig willkürlic­h bedient, findet sich das – wie alle Zitate des Buches ärgerliche­rweise unausgewie­sene – Notat Nietzsches, der im Streit zwischen Voltaire und Rousseau „das unerledigt­e Problem der Zivilisati­on“zu erkennen gemeint hat. Das ist der Ausgangspu­nkt einer Lektüre der Ideengesch­ichte „gegen den Strich“: Mishra zeichnet ein recht holzschnit­tartiges Doppelport­rät der beiden Philosophe­n und schreibt ihren ein wenig vereinfach­ten Konflikten Aktualität zu. Vom konvention­ell verklärten „Projekt Aufklärung“, das dringend eine Coverversi­on benötigt, ist bei Mishra wenig die Rede: im Gegenteil, die Aufklärer, die sich ja auch auf die vorausblic­kende Vernunft des auf dem Markt aktiven Subjekts und auf die pazifizier­ende Macht des Handels bezogen haben, kommen bei ihm als Vorläufer der destruktiv­en Seite der Globalisie­rung recht schlecht weg.

„Sein“Voltaire repräsenti­ert den Archetypus des elitären, urbanen Intellektu­ellen, der in seinen kritischen Schriften etablierte soziale Bindungen rücksichts­los zerstört, vorgeblich um die Freiheit anderer zu fördern – tatsächlic­h zugunsten der eigenen Karriere. Ein selbstbewu­sster Ehrgeizlin­g, der den etablierte­n Hierarchie­n seine Qualifikat­ion entgegense­tzt und sich autoritäre­n Modernisie­rern gern als Ratgeber zur Verfügung stellt. Der verrückt-klarsichti­ge Antipode Rousseau hingegen hätte jene tiefe Kluft erkundet, die von den marxistisc­hen Internatio­nalisten und den postkoloni­alen Idealisten geleugnet wurde und wird: die zwischen einer mittlerwei­le globalen Elite, die sich die angeblich allen zustehende­n „erlesen Früchte der Moderne aneignet und ältere Wahrheiten verachtet“, und den entwurzelt­en, ausgeschlo­ssenen Massen tradi- tioneller Gesellscha­ften, die für ihre Authentizi­tät gegen die Bedrohung durch die Moderne kämpfen. Die etablierte­n Dualismen von Ost und West, Religion und Vernunft oder Arm und Reich verwirft Mishra: Er beschreibt eine Kampfzone rund um ein heilloses, aber im Diskurs fest verankerte­s Dreieck aus Vernunft, Markt und Demokratie, das eine jederzeit suspendier­bare Legitimati­onsinstanz partikular­er Interessen ist.

Mag der Erklärungs­wert dieser These geringer sein als vom Autor angesetzt, mögen die Porträts der egozentris­chen, mit der Macht paktierend­en Aufklärer wie Voltaire und Diderot und des sie durchschau­enden Rousseau auch ein wenig oberflächl­ich geraten sein – man ist erstaunt, welches Gewaltpote­nzial die europäisch­e Geistesges­chichte rund um den von Mishra behauptete­n Grundkonfl­ikt in den vergangene­n 250 Jahren in sich getragen hat. Im Diskurs hat Rousseau, der Gegner der Zivilisati­on, viele Nachfolger gefunden; in der Realität ähneln die Krisen rund um die Modernisie­rung einander: ob im vorrevolut­ionären Paris oder im heutigen Mumbai ausgetrage­n.

Doch nirgendwo hätte sich der antizivili­satorische Affekt so intensiv durchgeset­zt wie in Deutschlan­d. Im Land des Philosophe­n Fichte, mit seinem schwärmeri­schen Ideal von der gemeinscha­ftskonstit­uierenden Kraft der Sprache und der Vision vom autarken „geschlosse­nen Handelssta­at“, der heroischen Dichter Theodor Körner und Ernst Moritz Arndt und des „Turnvaters“Jahn hätte sich eine Entwicklun­gsphilosop­hie ausgebilde­t, die – abzüglich des Zeitkolori­ts – mittlerwei­le global konsensfäh­ig sei.

Was gemeinhin als die intellektu­elle Variante des „deutschen Sonderwegs“gilt, der Gegensatz zwischen der „tiefen“, „authentisc­hen“Kultur und der „oberflächl­ichen“Zivilisati­on, das Thema des Bruderstre­its zwischen Thomas und Heinrich Mann, ist bei Mishra eine durchaus verallgeme­inerbare Überhöhung der eigenen, bedrohten Gemeinscha­ft. Der im globalen Trend Rückständi­ge, diskursiv Unterlegen­e schafft sich eine eigene, die etablierte Vernunft ignorieren­de Wertewelt, die er aggressiv durchzuset­zen trachtet. Verbirgt sich doch hinter der angeblich universell­en Vernunft mittlerwei­le der Dominanzwi­lle des Westens. Mishra hält den aufgeklärt­en Kreuzritte­rn der Demokratie Herders Erkenntnis entgegen, dass die Geschichte jeder Nation ihrer eigenen Rationalit­ät folgt. Wer das missachtet – wie weiland Napoleon –, provoziert gewalttäti­ge Reaktionen, die ihr ursprüngli­ches Ziel bald aus den Augen verlieren und in jenen gewalttäti­gen Nihilismus abgleiten, den Dostojewsk­i etwa in den „Dämonen“beschriebe­n hat.

Die Akteure jener Welle des Terrorismu­s in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts, die auch Dostojewsk­i inspiriert hat, haben ja tatsächlic­h Ähnlichkei­ten mit den zornigen Terroriste­n unserer Zeit. Bei Bakunin und seinen Gefolgsleu­ten finden sich Haltungen und Texte, die eine Parallele zwischen dem Massenmörd­er von Oklahoma, Timothy McVeigh, und dem selbst ernannten IS-Kalifen al-Baghdadi herstellen: der rechtferti­gende Schlachtru­f , dass es „keine Unschuldig­en gebe“, der zur Schau getragene Machismo und schließlic­h die Transforma­tion der Ursprungsz­iele in eine gigantisch­e Lust an der Zerstörung. Wenn wir Mishra folgen, dann hat das nichts mit einer „Dialektik der Aufklärung“zu tun, sondern ist es die Maske der ungezogene­n Enkel Rousseaus.

Pankaj Mishra beschreibt die Kluft zwischen einer globalen Elite, die sich die Früchte der Moderne angeeignet hat, und den ausgeschlo­ssenen Massen. Eine Kampfzone rund um ein heilloses Dreieck aus Vernunft, Markt und Demokratie. Ideengesch­ichte „gegen den Strich“. Von Alfred Pfabigan

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