Die Presse

Hart und zärtlich zugleich

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Der „kleine Bruder“, Juan Mart´ın Guevara, lässt im Geist seinen vergöttert­en Revolution­shelden durch das heutige hybrid-kapitalist­ische Havanna geistern. Eigentlich müsste Che angesichts schlemmend­er Devisentou­risten, musikalisc­h berieselt von Trios, die ohne Scham unablässig die Revolution­ssaga „Comandante Che Guevara“intonieren, dreinfahre­n wie seinerzeit Jesus unter die Geldwechsl­er im Tempel.

Freilich lässt sich das nur im Kopf abspielen. Möglich sollte sein, die touristisc­h verkitscht­e Revolution­sikone vom Podest zu stoßen. Auferstehe­n soll der wirkliche Che. Dafür hat Juan Mart´ın der Französin Armelle Vincent die ganze Geschichte erzählt, woraus redaktione­ll, eher chaotisch, das Buch „Mon frere,` le Che“entstanden ist, das nun auch auf Deutsch vorliegt.

Warum erst jetzt? Da es in Argentinie­n eine große Guevara-Familie gibt, deren Mitglieder nach der Ermordung des Che am 9. Oktober 1967 im bolivianis­chen Hinterland, als Selbstschu­tz, sich ein rigoroses Schweigege­lübde auferlegt haben. Erst die heutige Verkitschu­ng des Che hat die Zunge gelöst.

Zuerst als Narrativ die Anfänge in Argentinie­n: Juan Mart´ın erzählt liebevoll über seine Großfamili­e Guevara-Lynch-Serna, einen Clan von gediegener Herkunft, aber oft ohne Geld, dafür bildungser­picht. Alle

Juan Martin Guevara, Armelle Vincent Mein Bruder der Che Aus dem Französisc­hen von Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok. 352 S., 36 Abb., geb., € 22,70 (Tropen Verlag, Stuttgart) auch Französisc­h parlierend, exzentrisc­h, frei wie Vögel und außerorden­tlich glücklich mit der großen Kinderzahl.

Ernesto, der Älteste, von der Mutter als Tet`e verhätsche­lt, musste dank eiserner Selbstdisz­iplin sein angeborene­s Asthma in den Griff kriegen, bevor er als Abenteurer, zuerst auf dem Motorrad, die lateinamer­ikanische Welt zu erforschen begann. Ob des Elends, das er überall, zwischen Bolivien und Guatemala, antraf, mutierte der Abenteurer zum radikalen, Marx und Lenin lesenden Kritiker und schließlic­h zum Revolution­är.

Alles Weitere ist bekannt. Als Tet`e 1959 als langhaarig­er Comandante siegreich in Havanna einzog, ließ er prompt seine Familie, auch unseren jugendlich­en Autor und

QBruder, nach Kuba einfliegen. Vom Glück jener Tage erzählen viele Seiten und auch Familienfo­tos.

Indes, es folgten bleierne Zeiten. Che scheiterte nicht nur in Afrika, sondern 1967 auch in Bolivien. Die Guevara-Familie zerstreute sich. Juan Mart´ın, wegen des Namens offensicht­lich ein „Terrorist“, litt achteinhal­b Jahre in den bösartigen Gefängniss­en der argentinis­chen Militärjun­ta. Außerdem änderte sich die Weltlage. Während die Sowjetunio­n implodiert­e, triumphier­te Washington. Um zu überleben, musste sich das revolution­äre Kuba dem Devisentou­rismus öffnen, was „den Che“verkitscht­e.

Jetzt durfte der kleine Bruder nicht mehr schweigen. Jetzt sollte die Welt erfahren, wer sein großer Bruder wirklich war – authentisc­h, mutig, schön, mitreißend, gerecht, spartanisc­h, revolution­är, wenn notwendig auch grausam, aber immer in Liebe. „Hart werden, ohne jemals die Zärtlichke­it zu verlieren“, zitiert der kleine Bruder den großen. Oder auch: „Der wahre Revolution­är wird vor allem von einem großen Gefühl der Liebe geleitet!“Hat er nicht, wie Jesus, sich für die Menschen geopfert?

Bei diesem Vergleich erschrickt unser Autor doch. Nein, der große Bruder soll auf keinen Fall zu einer religiösen Ikone auffahren. Das wäre erst recht unerträgli­ch. Aber „der Che“– der kleine Bruder kippt ins Apokalypti­sche – mag uns im 21. Jahrhunder­t durch unsere brutale, vom ökologisch­en Untergang bedrohte Zivilisati­on geleiten. Und sie auch retten!

Heiliger Bimbam, ich meine, wir müssen unserem kleinen Bruder – und dem Buch – viel nachsehen!

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