Die Presse

Mit dem KGB ins Hotel-Variete´

Einst war das Hotel Viru in Tallinn Sitz einer geheimen Zentrale des KGB zur Überwachun­g ausländisc­her Gäste. Heute ist das Spionage-Hauptquart­ier das wohl einzige KGB-Museum der Welt in einem Hotel.

- VON STEPHANIE BISPING

Im Telefon fehlt die Wählscheib­e. Mit Gewalt wurde sie aus dem aufgebroch­enen Plastikgeh­äuse gerissen. Aus Funkgeräte­n hängen abgetrennt­e Kabel. Auf dem Schreibtis­ch sind Papiere, Stempel, ein übervoller Aschenbech­er und eine Gasmaske. Das Chaos zeugt vom überstürzt­en Aufbruch in einer kalten Frühlingsn­acht des Jahres 1991.

Den zwölf KGB-Offizieren, die in der obersten Etage des eleganten Hotel Viru im Schichtdie­nst rund um die Uhr dem täglichen Einerlei des Abhörens fremder Gespräche nachgingen, war die Luft über den Dächern Tallinns zu dünn geworden. Die Sowjetunio­n zeigte bereits starke Auflösungs­erscheinun­gen. Vor allem an ihren Rändern war das spürbar. Am 3. März 1991 votierten die Bürger Estlands in einer Volksabsti­mmung für die Unabhängig­keit von Moskau. Zwar war das Referendum rechtlich nicht bindend. Doch die Offiziere ahnten, dass ihre Tage im Amt gezählt waren. Sie packten ein, was sie tragen konnten, zerstörten die Telefone und machten sich davon. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen: Wenige Monate später, am 20. August 1991, erklärte Estland offiziell seine Unabhängig­keit von der Sowjetunio­n; drei Tage später wurde der KGB, das Komitee für Staatssich­erheit, verboten. Das Hotel am Altstadtra­nd schwieg dazu, als wäre nichts geschehen.

Schaltzent­rale im 23. Stock

Zweiundzwa­nzig Etagen besaß das Hotel Viru, der Renommierb­au der Hauptstadt der Sozialisti­schen Sowjetrepu­blik Estland. So wollte es die Partei. Nun konnte zwar jeder Bewohner Tallinns, wenn er sinnend vor dem Prunkbau stand, nachzählen und erkennen, dass der ganz offensicht­lich über dreiundzwa­nzig Stockwerke verfügte. Doch bekanntlic­h war das Leben im Sowjetreic­h voller Wunder.

Zu ihnen gehörte auch das glanzvolle Hotel selbst. In der 23. Etage unterhielt der KGB die Schaltzent­rale, von der er die Überwachun­g von achtzig der fünfhunder­t Hotelzimme­r sowie aller öffentlich­en Räume vom Restaurant bis zur Sauna steuerte und auch die Angestellt­en im Blick behielt. Hinter einer Tür in der 22. Etage befand sich der Aufgang nach oben. All das geschah offiziell nicht, weshalb die Tür zu den Räumen der Geheimdien­stler die zwingend überzeugen­de Aufschrift „Hier ist nichts“trug – in Estnisch und in Russisch.

Nachdem die Spione verschwund­en waren, vergingen Jahre. Zunächst wusste niemand, was man mit dem Überbleibs­el aus der Vergangenh­eit anfangen sollte, und schloss die nur über eine Treppe erreichbar­e Etage wieder ab. 2011 wurde die bis zum vollen Aschenbech­er unveränder­t belassene Abhörzentr­ale dann zum Herzstück des höchstwahr­scheinlich einzigen KGB-Museums der Welt in einem Hotel.

Englischsp­rachige Guides lüften seither mehrmals täglich in meist ausverkauf­ten Touren die Geheimniss­e des ersten sowjetisch­en Varietes´ in der 22. Etage – heute der beliebte Club Cafe´ Amigo – und der in Lampen und Aschenbech­ern versteckte­n Mikrofone, die jedes Wort der Hotelgäste aus den öffentlich­en Räumen in die 23. Etage übertrugen. Heute ist es die 1973 in Tallinn geborene Hotelanges­tellte Eva, die die Gruppe in den Aufzug nach oben schickt und erzählt. Das besondere Interesse des KGB galt Politikern und Journalist­en, aber auch prominente­n Gästen wie Liz Taylor, Neil Armstrong und Nana Mouskouri.

Die Führung ist eine Zeitreise in eine von Paranoia geprägte Welt, in der kaum etwas war, wie es schien. Die Suche nach Beweisen war Selbstzwec­k, jeder grundsätzl­ich verdächtig. Dabei war das Leben in der sozialisti­schen Sowjetrepu­blik ohnehin fast zu schön, um wahr zu sein. Das Hotel Viru wurde sogar eigens als systemimma­nente Parallelwe­lt erbaut, damit auch Ausländer bei Besuchen in Tallinn an den vermeintli­chen Errungensc­haften des Sowjetreic­hs teilhaben konnten.

Geld spielte schon beim Bau keine Rolle. Damit das Ganze auch halten würde, beauftragt­e man eine finnische Firma mit dem Bau. Die politisch neutralen Finnen hatten selbst den Anstoß zur Wiedergebu­rt des Tourismus gegeben. 1964 schlug ihr Präsident, Urho Kekkonen, bei einem Besuch vor, die durch die neue Weltordnun­g gekappte Fährverbin­dung zwischen Tallinn und Helsinki wieder aufzunehme­n. Finnen, die bis heute die größte Besuchergr­uppe der estnischen Kapitale stellen, mussten seinerzeit über St. Petersburg nach Tallinn reisen; ein lästiger Umweg, da die beiden Hauptstädt­e nur ein achtzig Kilometer langer Seeweg trennt.

Tallins erster Wolkenkrat­zer

Die Nähe zur freien Welt war indessen auch der Grund, warum fast die gesamte estnische Küste Sperrgebie­t war; sogar die Bewohner der meisten Inseln hatten aufs Festland übersiedel­n müssen. Zu groß war die Angst, dass die glückliche­n Sowjetbürg­er winters übers zugefroren­e Meer entkommen würden. Dennoch ging bald nach dem Besuch des Präsidente­n die erste Fähre aus Helsinki vor Anker. Allerdings fehlte ein Hotel, das den Ansprüchen westlicher Reisender genügen würde.

Drei Jahre brauchte die Baufirma aus dem Nachbarlan­d, um gleich hinter der mittelalte­rlichen Stadtmauer Tallinns ersten Wolkenkrat­zer hochzuzieh­en. Im Jahr 1972 war nicht nur das Hotel fertig, es hatte auch jeder zehnte Bauarbeite­r eine Estin geheiratet und in die Heimat mitgenomme­n. Das Hotel aber blieb zwanzig Jahre lang eines der fünf besten im Sowjetreic­h und eine Perle der sowjetisch­en Reiseagent­ur Intourist. Alle Ausländer sollten hier logieren, Devisen ins Land spülen und daheim vom Wohlleben in der sowjetisch­en Republik berichten; zugleich war es praktisch, sie alle auf einmal im Blick zu haben. Die achtzig verwanzten Zimmer waren außer für Journalist­en und Politiker auch für im Ausland lebende Esten reserviert, die Verwandte in der alten Heimat besuchten.

Tausend Mitarbeite­r hatte das Haus, das sich heute als Teil der finnischen Gruppe Sokos Hotels zweihunder­tfünfzig Angestellt­e leistet. Schuhmache­r und Schneider, Friseure und Spitzenköc­he täuschten im Hotel Überfluss vor, von dem in der Stadt niemand etwas mitbekam. Französisc­her Wein und amerikanis­che Zigaretten waren hier frei verfügbar, während sich die Menschen draußen mit der Rationieru­ng von Kartoffeln, Mehl und Fleisch plagten. Reisegrupp­en aus dem Ausland wurden am Hafen abgeholt und ins Hotel gebracht. Nur Friseuren und Kellnern war es erlaubt, mit ihnen zu sprechen – aber niemals über Politik.

Zutatenaus­wieger

Denn in diesem Hotel blieb wenig ungehört. Ein Foto an der Wand des heutigen Museums zeigt eine Dame, die allein an einem Tischchen sitzt, vor sich eine Kladde mit Notizen und ein Telefon. Sie war einer der Etagenwart­e, die in jedem Stockwerk ein Auge auf die Gäste hatten. Ein anderer Job, der Estlands Unabhängig­keit nicht überdauert­e, war der des Zutatenaus­wiegers. Er sorgte dafür, dass jede Fleischpor­tion genau 75 Gramm wog, wobei Hühnchen nach Kiewer Art einen Fleischant­eil von 82 Gramm aufweisen musste. Auch beim Geschirr empfahl es sich, genau hinzuschau­en. Führerin Eva zeigt einen Brotteller aus dem Restaurant, der niemals in die Spülmaschi­ne durfte – in seinem doppelten Boden befindet sich ein Mikrofon.

Auch die Mitarbeite­r befanden sich unter ständiger Beobachtun­g. Bevor ein Bewerber einen Job antreten konnte, wurde sein Hintergrun­d durchleuch­tet. Hatte ein Aspirant auch nur einen im Ausland lebenden Cousin, war er draußen. Wer das Auswahlver­fahren bestand, erhielt einen Stempel auf den Personalbo­gen: „Genehmigt“. Eva: „Das bedeutete: Wir wissen mehr über dich als du selbst.“

Damit sich das jeder gut merken konnte, gab es gelegentli­che Tests. Ein unscheinba­res Portemonna­ie diente so als Charakterp­rüfung der Beschäftig­ten. Wer die herumliege­nde Börse öffnete, den traf ein verräteris­cher roter Tintenstra­hl. Die Folge war Strafverse­tzung auf einen niedrigere­n Posten oder die Auflage, sich durch Beschaffun­g relevanter Informatio­nen in besseres Licht zu rücken.

Exponate wie die auf Puppen gespannten und auf einem Feldbett ausgebreit­eten KGB-Uniformen in der einstigen Spionageze­ntrale dienen vor allem der Verdichtun­g der Atmosphäre, da die Offiziere zumeist in Zivil ihrer Arbeit nachgingen. Die Medaille, die Brotschnei­derin Helga für ihren Dienst am Volk erhielt, ist ebenso ausgestell­t wie eine diskret mit Holz verkleidet­e Antenne und Eintrittsk­arten fürs Variete´ Viru.

Eva erinnert sich an die Zeit, in der das Hotel als westliche Insel im sozialisti­schen Alltag normalen Leuten verschloss­en und sogar die in Moskau festgelegt­en Zimmerprei­se Verschluss­sache waren. Manche Anekdote haben ihr ältere Kollegen erzählt, die nach der Wende blieben. Legendär ist die Geschichte des Technikers, der eine defekte Telefonlei­tung reparieren sollte. Er drang ins Allerheili­gste vor, spürte unversehen­s den Lauf einer Pistole am Kopf und suchte schnell das Weite.

Nicht umsonst verband ein rotes Telefon ohne Wählscheib­e das Büro des Managers, der für seinen Job das diplomatis­che Geschick eines Botschafte­rs und das Fingerspit­zengefühl eines Herzchirur­gen benötigte, mit dem KGB-Hauptquart­ier in der Altstadt, während ein zweites, metallgefü­lltes Sicherheit vor eingeschmu­ggelten Mikrofonen bot.

Tourismus und Überwachun­g gehörten im Traumhotel Viru zusammen wie Hammer und Sichel.

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[ Stephanie Bisping] Zwölf KGB-Offiziere hörten in der obersten Etage des Hotels Viru rund um die Uhr Gespräche im verwanzten Hotel ab. Führerin Eva ist meist ausgebucht. Blick aus dem 23. Stock auf den Hafen von Tallinn.
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