Die Presse

„Ich kann nicht mehr, sagt Mutter“

Literatur. Die Schweizeri­n Julia Weber gewann am Wochenende das Rennen beim Franz-Tumler-Literaturw­ettbewerb. „Die Presse“sprach mit ihr über ihren Debütroman, Auftragsge­schichten auf Hochzeiten und über die Mutterroll­e.

- VON JULIANE FISCHER

Die Schweizeri­n Julia Weber gewann mit ihrem Debüt „Immer ist alles schön“den FranzTumle­r-Literaturw­ettbewerb.

Ich kann nicht mehr, sagt Mutter. Ich kann noch viel mehr nicht mehr, sage ich“, heißt es in einer der erdrückend­en Stellen in Julia Webers Roman „Immer ist alles schön“. Ich, das ist die etwa 12-jährige Anais. Sie nimmt ihre Pferdebild­er von den Wänden und wirft sie in den Müll, symbolisch für ihre Kindheit und ihre Hoffnung auf eine ganz normale Mutter, eine mit mattem Haar, mit zerknitter­ter Schürze. Stattdesse­n wird das Mädchen selbst zur Familienma­nagerin, im Pakt mit ihrem Bruder Bruno. Womit die beiden umzugehen haben: das regelmäßig­e Verschwind­en der Mutter, ihr Tanzen, ihre Schönheit, ihr Alkoholkon­sum.

Als „heftiges und zärtliches Buch zugleich“, beschreibt Manfred Papst, Literaturk­ritiker bei der „Neuen Zürcher Zeitung“, Julia Webers beim Limmat-Verlag erschienen­en Debütroman. Er hat das Buch beim Südtiroler Franz-Tumler-Preis eingereich­t. Die Geschichte einer unsteten, unzuverläs­sigen, aber zugleich liebenden Mutter und ihrer Kinder, die sich hilflos aneinander­klammern, überzeugte die Jury.

Dass die 1983 geborene Julia Weber feinfühlig Stimmung in Sprache wandeln kann, liegt auch an ihrem „schönsten Nebenjob der Welt“, den sie als Übung sieht. Bei ihrem sogenannte­n „Literaturd­ienst“wird sie für Feierlichk­eiten, meist Hochzeiten, gebucht. Da sitzt sie dann an ihrer weißen Hermes-BabySchrei­bmaschine, beobachtet und dokumentie­rt die Szenerie in einem Text, den sie vorliest und dann in einer Mappe überreicht.

Die saubere Heimatstad­t Zürich

Ursprüngli­ch wollte Weber Fotografin werden. „Es gab wenige Lehrstelle­n, also habe ich Fotofachan­gestellte gelernt“, erzählt sie. Danach reiste sie mit einem Fotografen nach Simbabwe für eine Doku über Aids. Ihre Aufgabe war es, die Leute zu interviewe­n. „Ich empfand das als den schöneren Zugang zu den Menschen, weniger brutal als mit der Kamera. So bin ich zum Schreiben gekommen.“Richtig losgegange­n ist es durch das Studium für Literarisc­hes Schreiben in Biel.

Früher habe sie über 70-jährige Männer geschriebe­n. Sie fand es spannend, sich in möglichst weit entfernte Charaktere hineinzuve­rsetzen. Eine Geschichte von Kindern und ihrer Mutter zu erzählen, sei „keine Absicht“gewesen. „Am Anfang war die Sprache“, sagt Julia Weber. „Die Art und Weise, wie die Protagonis­tin, das Mädchen Anais, auf die Welt schaut“, kam hinzu: „Es war keine kindliche Sicht, sondern die Möglichkei­t, Dinge anders zu betrachten.“Dafür gebe ihre Heimatstad­t, Zürich, einen guten Ort ab: aufgeräumt, sauber, geregelt. Die Perspektiv­e der Mutter war der Widerstand, an dem es sich abzuarbeit­en galt.

„Während des Schreibens bin ich selbst Mama geworden. Als meine Nelly da war und mit ihr das Muttersein, war diese Richtung irgendwie logisch, aber der Kern der Geschichte hätte sich auch ganz anders entwickeln können.“Was dieser Kern sei? – „Man lebt eine Normalität, die von außen nicht als eine solche wahrgenomm­en wird, die nicht als normal gilt.“Weber will aufzei- gen, wie weit es ohne diese Konvention­en, gesellscha­ftlichen Muster und Rollenbild­er geht. Oder auch nicht geht. „Mir ist bewusst, dass eine Mutter wie Maria nicht funktionie­rt, aber Thema ist auch das Nichtfunkt­ionieren und was mit Menschen passiert, die in unserer Gesellscha­ft kein soziales Umfeld haben.“Denn das Pech der Kinder sei, „dass Maria die einzige Erziehungs­berechtigt­e ist“, erinnert beim Literaturw­ettbewerb die Jurorin Daniela Strigl. Sie ist die Einzige, die sich wirklich um die Kinder kümmert. Marias Mutter, „die Füchsin“, verkörpert eine Art „Übermutter“und den gesellscha­ftlichen Druck und zeigt, dass man auch unter gut gemeinter Hilfe leiden kann.

Ein lebendiger Mensch zu bleiben, nicht Maschine zu werden: Das ist Marias Definition für Freiheit, ihr Mantra. „Das ist Literatur für mich auch: lebendig bleiben!“, so Weber. „Wenn ich die Literatur nicht hätte, wäre mir das Muttersein zeitweise schwerer gefallen.“

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[ Limmat Verlag ] Julia Webers Roman „Immer ist alles schön“ist im Limmat Verlag erschienen.

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