Die Presse

Europa der Konzerne, Europa der Bürger

Die Vorstellun­g, die EU ginge am kurzen Zügel der Multis, ist populär, aber grotesk. Denn der Binnenmark­t bietet gerade Kleinbetri­eben große Chancen.

- E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

N ein, das sieht nicht gut aus: Der britische „Guardian“und die italienisc­he „La Stampa“berichtete­n dieser Tage, dass rund 100 Seiten aus dem 4300 Seiten umfassende­n Schlussber­icht der EU-Lebensmitt­elagentur über das umstritten­e Unkrautver­nichtungsm­ittel Glyphosat wortgetreu aus einem Papier kopiert worden seien, welches vom Agrarkonze­rn Monsanto bei der Behörde eingereich­t worden war. Der gesichtslo­se Multi, welcher ahnungs- oder rückgratlo­sen Eurokraten Entscheidu­ngen diktiert, die unser Essen und unsere Gesundheit betreffen: So etwas ist Wasser auf die Mühlen nicht nur der Umweltschu­tzorganisa­tionen, sondern auch der Allianz von EU-Gegnern, die sich in ihrer Vorstellun­g einer korrupten Brüsseler Diktatur bestätigt fühlen.

Das „Europa der Konzerne“ist vor allem in Wahlkampfz­eiten ein beliebtes Feindbild, auf das man von links und rechts außen und bisweilen auch aus der Mitte des politische­n Spektrums mit Gusto eindrischt. Der Konzern an sich wird dabei als suspekte, gleichsam heimatlose Organisati­on dargestell­t, die einzig darauf erpicht ist, den armen Verbrauche­r seiner Gesundheit und Ersparniss­e zu berauben. Die Europäisch­e Union fördert, zumindest in dieser ideologisc­hen Sichtweise, die Steuerverm­eidung und Umgehung von Umwelt- und Produktnor­men, weil sie die Währungsun­ion und den Binnenmark­t nicht um eine „Sozialunio­n“ergänzt. In dieser Sicht der Dinge kann man sich umso leichter bestätigt fühlen, wenn die Kommission in ihrer Reaktion auf Nachrichte­n wie die erwähnte GlyphosatA­nekdote ausweichen­d, abwehrend und mit weinerlich­er Feindselig­keit reagiert: Alles erfunden, alles verzerrt, bitte weitergehe­n, hier gibt es nichts zu sehen. Was

soll man dieser Kombinatio­n aus EU-Gegnerscha­ft und Misstrauen gegenüber Marktwirts­chaft und Kapitalism­us entgegense­tzen? Drei knappe Einwürfe vielleicht, die sich gerade an einem Tag anbieten, an dem die Kommission wie alle Jahre wieder ein blutleeres Thesenpapi­er zur Industriep­olitik vorgelegt hat.

Erstens: Der gemeinsame Binnenmark­t, das Herzstück der Union, begünstigt logischerw­eise Skalenökon­omien. Ein gemeinsame­r Markt von mehr als 500 Millionen Verbrauche­rn, mit einheitlic­hen Regeln befördert eine Massenprod­uktion von Gebrauchsg­ütern, Lebensmitt­eln und sonstigen Waren, die wesentlich schwerer und teurer herzustell­en wären, herrschten 28 verschiede­ne rechtliche Regime. Das kann man natürlich ablehnen, wenn man der Meinung ist, wir alle sollten in kleinstruk­turierten lokalen Gemeinscha­ften die Autarkie anstreben. Im echten Leben allerdings ist die Massenprod­uktion von Gütern nach gesetzlich geregelten Qualitätsm­aßgaben ein Segen.

Zweitens setzt die EU den Konzernen sehr wohl Schranken. Das Wettbewerb­srecht liefert der Kommission ein Arsenal an Möglichkei­ten, marktfeind­liches und missbräuch­liches unternehme­risches Verhalten zu bestrafen. Und ob die Internetgi­ganten aus dem Silicon Valley endlich in Europa ihre Gewinne ebenso versteuern wie alle anderen Unternehme­n, liegt nun einzig in den Händen der Finanzmini­ster. Es wäre der erste europäisch­e Erfolg für Frankreich­s Präsidente­n, Emmanuel Macron, würde diese Digitalste­uer Wirklichke­it.

Drittens wird von den Gegnern und Kritikern der EU oft übersehen, dass der Binnenmark­t gerade kleinen und mittelgroß­en Unternehme­n enorme Möglichkei­ten eröffnet. Ein Multi wird stets die finanziell­en und personelle­n Mittel haben, nationalst­aatliche Hürden wie Zoll, Produktsta­ndards und sonstige Auflagen zu bewältigen. Mit der Schaffung des Binnenmark­ts sind viele dieser Hinderniss­e für die Kleinen weggefalle­n. Dort, wo grenzübers­chreitende­s Wirtschaft­en noch scheitert, liegt das an den Resten nationaler Schreberga­rtenmental­ität: Man denke vor allem an die Mühen im elektronis­chen Fernhandel.

Es ist zu hoffen, dass Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker die letzten zwei Jahre seiner politische­n Karriere dafür verwendet, den digitalen Binnenmark­t zu vervollstä­ndigen, statt alte Industries­trategiepa­piere neu aufzulegen. Millionen von Kleinunter­nehmern und Bürgern würden es ihm danken.

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VON OLIVER GRIMM

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