Die Presse

Verraten Gene das Gesicht und das Verhalten?

Gen-Analysen beeindruck­en Gerichte nicht, Gen-Rekonstruk­tionen der Physiognom­ie sind umstritten.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Kann man aus dem Genom lesen, wie eine/r aussieht? Und kann man Gene dafür verantwort­lich machen, wie einer sich verhält? Letzteres, die Verhaltens­genetik, hat seit einigen Jahren in Gerichtssä­len Einzug gehalten, weil Anwälte in der Wissenscha­ft – auch in Magnetreso­nanzaufnah­men des Gehirns – eine Chance sehen, ihre Mandanten zu milderen Urteilen kommen zu lassen. Zwei Fälle machten Schlagzeil­en, beide Male kamen in Italien verurteilt­e Mörder in der Revision zu geringeren Strafen, weil sie von einem Promotor-Gen, das die Produktion des Enzyms MAOA steuert, eine schwächere Variante haben. Die kann, das zeigte eine Langzeitst­udie in Neuseeland, zu kriminelle­m Verhalten führen, wenn sie mit einer bestimmten Umwelt – Misshandlu­ngen während der Kindheit – zusammenko­mmt: Zwölf Prozent der getesteten Personen hatten beides, sie begingen 44 Prozent der Gewaltverb­rechen.

Sind sie deshalb ihren Genen untertan? Richter, berufliche wie Laien, lassen sich von der Verteidigu­ngsstrateg­ie kaum beeindruck­en, die Fälle in Italien blieben die Ausnahme, Studien in den USA und Deutschlan­d zeigen, dass Verhaltens­genetik allenfalls marginale Reduktione­n der Strafen bringt. Nicolas Scurich (UC Irvie) und Paul Appelbaum (New York) haben es zusammenge­tragen (Nature 18. 9.), finden aber keine schlüssige Erklärung für die mangelnde Überzeugun­gskraft der Genetik: Es könne sein, dass Richter darauf beharren, dass der Wille frei sei und die Verantwort­ung voll beim Handelnden liege; es könne aber auch umgekehrt sein, dass die Richter die Verantwort­ung bzw. Handlungsf­ähigkeit eingeschrä­nkt sehen und fürchten, der Angeklagte werde bald rückfällig.

Streit um Venters „Gen-Hexerei“

Aber erst muss man einen Angeklagte­n haben, und möglicherw­eise kann man ihn bzw. sein Gesicht bald aus Genspuren am Tatort lesen. Ein Grundlagen­experiment hat „Gen-Hexer“Craig Venter unternomme­n (Pnas 11. 9.), er hat Genome von 1061 Personen auch mit der Hilfe von Artificial Intelligen­ce ausgewerte­t und in 74 Prozent der Fälle korrekt zugeordnet, er leitete daraus ab, dass mit Genomanaly­sen höchst vorsichtig umgegangen werden solle. Aber viele Kollegen und selbst einen Mitautor der Studie überzeugte er nicht: Man komme gar auf 75 Prozent, wenn man nur Alter, Ethnie und Geschlecht kenne, urteilte etwa Mark Shriver (Penns), er war einer der Peer-Reviewer für Science, dem hatte Venter seine Arbeit zuerst geschickt. Das Journal lehnte ab, Venter ging zu Pnas, wo er die PeerReview­er selbst wählen konnte. Eines immerhin bleibt: Venter fand einen Weg, aus dem Genom das Alter zu lesen: Die Länge der Telomere – das sind die Endstücke der Chromosome­n –, die bei jeder Zellteilun­g kürzer werden, verrät es.

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