„Sozialpopulismus fördert die Extreme“
Interview. Georg Cremer, Ex-Generalsekretär der Caritas Deutschland und Professor für Volkswirtschaft, über die Gerechtigkeitsdebatte im Wahlkampf, die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg, den Sozialstaat und die Zukunftspanik.
Die Presse: Soziale Gerechtigkeit ist in Wahlkampfzeiten – in Deutschland wie in Österreich – ein großes Thema. Wird das nach der Wahl jetzt gleich wieder in Vergessenheit geraten? Georg Cremer: Fragen der Gerechtigkeit bleiben immer ein Thema der politischen Auseinandersetzung. Gerechtigkeit hat mehrere Dimensionen, es geht nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit. Ich würde mir wünschen, dass wir auch stärker die Befähigungsgerechtigkeit darin aufnehmen, ob Menschen also ihre Potenziale entfalten können. In Deutschland haben wir einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Das erzeugt soziale Probleme, zum Beispiel einen verhärteten Kern der Langzeitarbeitslosigkeit, oder Jugendliche, die nicht genügend qualifiziert sind, um eine Ausbildung zu machen.
Wie groß ist die Gefahr, dass die Debatte in Sozialpopulismus abgleitet? Die Gefahr, dass im Wahlkampf eine Mobilisierung durch eine Diskussion mit einem Untergangsdiskurs stattfindet, ist natürlich groß. Das ist für die politischen Kräfte, die für den Aufbau des Sozialstaats Verantwortung getragen haben, letztlich schädlich. Denn wenn alles schreiendes Unrecht ist, fragen die Menschen zu Recht: „Warum habt ihr das nicht geändert, als ihr an der Regierung wart?“Das för- dert extreme Positionen, die Ränder, also die AfD und die Linke.
Halten Sie es für ein alarmierendes Zeichen, dass rund ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr am politischen Prozess teilnimmt? Es ist ein deutliches Problem, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland sich gravierend nach sozialer Schichtung unterscheidet. Menschen mit niedrigem Einkommen beteiligen sich zu einem extrem geringen Ausmaß an Wahlen. Das gefährdet die demokratische Repräsentanz. Es ist ein wenig paradox: Die Beschäftigungssituation hat sich sehr günstig entwickelt. Auch die Umfragewerte bezüglich Zufriedenheit oder der Sorge vor Arbeitslosigkeit haben sich deutlich verbessert. Zugleich ist ein Gefühl der grassierenden Ungerechtigkeit da. Ich hoffe, dass der Wahlkampf nicht das Gefühl verstärkt hat, dass alle entweder zu viel zahlen oder zu wenig bekommen.
Ist die Angst vor sozialem Abstieg nur ein Gefühl ohne sachlich-realen Grund? Die Ängste beziehen sich nicht auf eine akute finanzielle Situation, sondern auf die Zukunft – die Sorge vor dem Alter. Und sie bezieht sich ganz stark auf die Zukunft der Kinder. Es herrscht das Gefühl: „Wir waren die letzte Generation, der es besser ging als unseren Eltern.“Wir haben aber auch heute Realeinkommensgewinne, wir sind ein produktives Land. Die, denen an einem guten Sozialstaat und an sozialem Ausgleich gelegen ist, soll- ten alles vermeiden, dieses Gefühl der Zukunftspanik zu befeuern. Eine Mittelschicht, die Angst hat, schottet sich ab. Das ist kontraproduktiv für alle sozialen Anliegen.
Nun spielt auch die Flüchtlingsdebatte mit hinein. Belasten die Mehrausgaben das soziale Gefüge und den Sozialstaat? Gehen sie auf Kosten der Schwachen? Es ist keine einzige Maßnahme zurückgenommen worden, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Im materiellen Sinn hat kein Armer unter der Aufnahme der Flüchtlinge gelitten. Aufpassen muss man aber deutlich in der Frage der Konkurrenz um günstigen Wohnraum. Wir haben erst durch die Aufnahme der Flüchtlinge das Problem der Mietbelastung in den wachsen- den Ballungszentren politisch wirksam wahrgenommen. Da sehe ich den wichtigsten Problemfaktor.
Teilen Sie die Auffassung Angela Merkels: „Wir schaffen das“? Ich bin fest überzeugt, dass Deutschland diese Integrationsaufgabe bewältigen kann, ohne bedürftige Gruppen zurückzusetzen.
Wie sehen Sie die Zukunft des Sozialstaats? Muss man sich auf Dauer ein Stück davon verabschieden? Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, eine Absicherung des Pflegerisikos in einem Teilkaskosystem. Wir haben den demografischen Wandel im Rentensystem zu stemmen. Immerhin ist es gelungen, mit großen Konflikten zwar, die Erhöhung des Rentenalters durchzusetzen. Man wird immer wieder die sozialpolitischen Stellschrauben modifizieren müssen. Ich teile nicht die Sicht, dass sich ein Land wie Deutschland diesen Sozialstaat nicht leisten kann.
Geht es den Deutschen also besser als je zuvor? Wenn man sich auf den Untergangsdiskurs bezieht, der in einer aufgeregten Sozialdebatte erzeugt wird, geht es uns besser, als es den Eindruck erweckt. Die Mitte zerbricht nicht, der Arbeitsmarkt wird nicht amerikanisiert, der Sozialstaat wurde nicht abgebaut. Aber es gibt natürlich erheblichen Handlungsbedarf – etwa bei der Armutsbekämpfung im Alter.