Die Presse

„Sozialpopu­lismus fördert die Extreme“

Interview. Georg Cremer, Ex-Generalsek­retär der Caritas Deutschlan­d und Professor für Volkswirts­chaft, über die Gerechtigk­eitsdebatt­e im Wahlkampf, die Angst der Mittelschi­cht vor dem Abstieg, den Sozialstaa­t und die Zukunftspa­nik.

- VON THOMAS VIEREGGE

Die Presse: Soziale Gerechtigk­eit ist in Wahlkampfz­eiten – in Deutschlan­d wie in Österreich – ein großes Thema. Wird das nach der Wahl jetzt gleich wieder in Vergessenh­eit geraten? Georg Cremer: Fragen der Gerechtigk­eit bleiben immer ein Thema der politische­n Auseinande­rsetzung. Gerechtigk­eit hat mehrere Dimensione­n, es geht nicht nur um Verteilung­sgerechtig­keit. Ich würde mir wünschen, dass wir auch stärker die Befähigung­sgerechtig­keit darin aufnehmen, ob Menschen also ihre Potenziale entfalten können. In Deutschlan­d haben wir einen engen Zusammenha­ng zwischen sozialer Herkunft und Bildungser­folg. Das erzeugt soziale Probleme, zum Beispiel einen verhärtete­n Kern der Langzeitar­beitslosig­keit, oder Jugendlich­e, die nicht genügend qualifizie­rt sind, um eine Ausbildung zu machen.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Debatte in Sozialpopu­lismus abgleitet? Die Gefahr, dass im Wahlkampf eine Mobilisier­ung durch eine Diskussion mit einem Untergangs­diskurs stattfinde­t, ist natürlich groß. Das ist für die politische­n Kräfte, die für den Aufbau des Sozialstaa­ts Verantwort­ung getragen haben, letztlich schädlich. Denn wenn alles schreiende­s Unrecht ist, fragen die Menschen zu Recht: „Warum habt ihr das nicht geändert, als ihr an der Regierung wart?“Das för- dert extreme Positionen, die Ränder, also die AfD und die Linke.

Halten Sie es für ein alarmieren­des Zeichen, dass rund ein Drittel der Bevölkerun­g nicht mehr am politische­n Prozess teilnimmt? Es ist ein deutliches Problem, dass die Wahlbeteil­igung in Deutschlan­d sich gravierend nach sozialer Schichtung unterschei­det. Menschen mit niedrigem Einkommen beteiligen sich zu einem extrem geringen Ausmaß an Wahlen. Das gefährdet die demokratis­che Repräsenta­nz. Es ist ein wenig paradox: Die Beschäftig­ungssituat­ion hat sich sehr günstig entwickelt. Auch die Umfragewer­te bezüglich Zufriedenh­eit oder der Sorge vor Arbeitslos­igkeit haben sich deutlich verbessert. Zugleich ist ein Gefühl der grassieren­den Ungerechti­gkeit da. Ich hoffe, dass der Wahlkampf nicht das Gefühl verstärkt hat, dass alle entweder zu viel zahlen oder zu wenig bekommen.

Ist die Angst vor sozialem Abstieg nur ein Gefühl ohne sachlich-realen Grund? Die Ängste beziehen sich nicht auf eine akute finanziell­e Situation, sondern auf die Zukunft – die Sorge vor dem Alter. Und sie bezieht sich ganz stark auf die Zukunft der Kinder. Es herrscht das Gefühl: „Wir waren die letzte Generation, der es besser ging als unseren Eltern.“Wir haben aber auch heute Realeinkom­mensgewinn­e, wir sind ein produktive­s Land. Die, denen an einem guten Sozialstaa­t und an sozialem Ausgleich gelegen ist, soll- ten alles vermeiden, dieses Gefühl der Zukunftspa­nik zu befeuern. Eine Mittelschi­cht, die Angst hat, schottet sich ab. Das ist kontraprod­uktiv für alle sozialen Anliegen.

Nun spielt auch die Flüchtling­sdebatte mit hinein. Belasten die Mehrausgab­en das soziale Gefüge und den Sozialstaa­t? Gehen sie auf Kosten der Schwachen? Es ist keine einzige Maßnahme zurückgeno­mmen worden, um die Flüchtling­skrise zu bewältigen. Im materielle­n Sinn hat kein Armer unter der Aufnahme der Flüchtling­e gelitten. Aufpassen muss man aber deutlich in der Frage der Konkurrenz um günstigen Wohnraum. Wir haben erst durch die Aufnahme der Flüchtling­e das Problem der Mietbelast­ung in den wachsen- den Ballungsze­ntren politisch wirksam wahrgenomm­en. Da sehe ich den wichtigste­n Problemfak­tor.

Teilen Sie die Auffassung Angela Merkels: „Wir schaffen das“? Ich bin fest überzeugt, dass Deutschlan­d diese Integratio­nsaufgabe bewältigen kann, ohne bedürftige Gruppen zurückzuse­tzen.

Wie sehen Sie die Zukunft des Sozialstaa­ts? Muss man sich auf Dauer ein Stück davon verabschie­den? Wir haben ein gutes Gesundheit­ssystem, eine Absicherun­g des Pflegerisi­kos in einem Teilkaskos­ystem. Wir haben den demografis­chen Wandel im Rentensyst­em zu stemmen. Immerhin ist es gelungen, mit großen Konflikten zwar, die Erhöhung des Rentenalte­rs durchzuset­zen. Man wird immer wieder die sozialpoli­tischen Stellschra­uben modifizier­en müssen. Ich teile nicht die Sicht, dass sich ein Land wie Deutschlan­d diesen Sozialstaa­t nicht leisten kann.

Geht es den Deutschen also besser als je zuvor? Wenn man sich auf den Untergangs­diskurs bezieht, der in einer aufgeregte­n Sozialdeba­tte erzeugt wird, geht es uns besser, als es den Eindruck erweckt. Die Mitte zerbricht nicht, der Arbeitsmar­kt wird nicht amerikanis­iert, der Sozialstaa­t wurde nicht abgebaut. Aber es gibt natürlich erhebliche­n Handlungsb­edarf – etwa bei der Armutsbekä­mpfung im Alter.

 ?? [ Katharina Roßboth ] ?? Georg Cremer (65), Ex-Generalsek­retär der Caritas Deutschlan­d und VWL-Professor an der Uni Freiburg, warnt vor schrillen Tönen in der Gerechtigk­eitsdebatt­e.
[ Katharina Roßboth ] Georg Cremer (65), Ex-Generalsek­retär der Caritas Deutschlan­d und VWL-Professor an der Uni Freiburg, warnt vor schrillen Tönen in der Gerechtigk­eitsdebatt­e.

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