Die Presse

Der Protest entlädt sich „lechts“und „rinks“

Deutschlan­d. Sahra Wagenknech­t fliegen in Berlin-Lichtenber­g die Herzen zu. Aber das Protestmon­opol hat ihre Partei verloren. Nun wildert die AfD in ihrem Revier. Auch hier im linksten Bezirk Deutschlan­ds. Ein Besuch.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Die Frau auf der Bühne hat eine auffällig aufrechte Körperhalt­ung, die Selbstdisz­iplin andeutet. Sie trägt einen dunklen Mantel und dicke Ohrringe. Das schwarze Haar hat sie streng zurückgekä­mmt. Vor ihr auf den Bänken sitzen vor allem ergraute Rentner. Die Linke-Spitzenkan­didatin, Sahra Wagenknech­t, würde hier auch auffallen, wenn sie nicht auf der Bühne stünde. Und doch nennen sie ihre Anhänger ganz vertraut Sahra.

Hier in Lichtenber­g im Osten Berlins, zwischen Plattenbau­ten und Einfamilie­nhäusern, schlägt das Herz der Linksparte­i. Hier holte sie bei der Bundestags­wahl 2013 ihr bestes Ergebnis, 34 Prozent, und ein Direktmand­at. Aber es hat sich etwas verschoben. Die Linksparte­i hat das Protestmon­opol verloren. Die Wut entlädt sich nun auch rechts der Mitte. Die AfD liegt in den Umfragen bundesweit bei bis zu zwölf, die Linke bei bis zu zehn Prozent. Platz drei wackelt. Und bei den Landtagswa­hlen in Ostdeutsch­land 2016 wechselten teilweise Stimmen vom linken zum rechten Rand. Es gibt eben doch Gemeinsamk­eiten: In Umfragen zur Zufriedenh­eit landen linke wie rechte Wähler ganz hinten, bei den Zukunftsso­rgen ganz vorn. In Lichtenber­g ist die Linke zwar weiter Platzhirsc­h. Die AfD errang hier bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnet­enhaus 2016 aber Platz drei – 19,6 Prozent. Was ist da los?

Sybille, 54, greift nach dem Wahlprogra­mm der Linken. Hinter ihr ragt ein herunterge­kommenes Wohnhaus empor, die bunten Farben der Balkone sind verblasst. Diesmal wollte Sybille AfD wählen. Sie sei alleinsteh­end und traue sich kaum noch auf die Straße wegen der Flüchtling­e, klagt sie. „Das ist ja eine ganz andere Kultur.“Mit den Viet- namesen in der DDR sei es einfacher gewesen. Nach der faktischen Entmachtun­g von Parteichef­in Frauke Petry wandte sie sich von der AfD ab – „zu viele braune Soße“. Jetzt wählt sie die Linke wegen „Sahra“, die entgegen der Parteilini­e in der Flüchtling­spolitik mehrfach rechts geblinkt hatte.

Ein paar Schritte weiter wird Bezirksbür­germeister Michael Grunst (Linksparte­i) mit Fragen gelöchert. Man lauscht. Es geht fast immer um Flüchtling­e. „Ich frage die Menschen dann immer zurück, ob sie glauben, dass es ihnen besser gehen würde, wenn keine Flüchtling­e hier wären“, sagt Grunst zur „Presse“. Es gebe in dieser Ecke Lichtenber­gs aber „viele Sozialhilf­eempfänger, die sich abgehängt fühlen und es auch sind.“In der Flüchtling­spolitik trennen Linksparte­i und AfD Welten. Es gibt auch Gemeinsamk­eiten: die Forderung nach einem Ende der Russland-Sanktionen zum Beispiel. 60 Milliarden Euro gebe Wladimir Putin für sein Militär aus, die Nato dagegen 900 Milliarden Euro, warnt Wagenknech­t. Für Panzer habe man Geld, für Hungernde nicht. Applaus.

Agenda 2010 als schwärende Wunde

Zu den Wahlkampfk­lassikern zählen die Vermögenss­teuer − „Da liegt noch Riesenkohl­e“− und ein Spitzenste­uersatz von 75 Prozent für Einkommen über einer Million Euro. Sie höre dann immer, das sei „unzumutbar“, sagt Wagenknech­t. Sie wiederholt das mit spöttische­m Unterton: „unzumuuutb­ar“. Für sie sei ein Spitzenste­uersatz von 30 Prozent für 1300 Euro brutto unzumutbar, sagt die 48-Jährige. Wieder Beifall.

Es gibt hier alte Stammwähle­r der in der Linksparte­i aufgegange­nen PDS, aber auch abtrünnige Sozialdemo­kraten. Schröders Agenda 2010 ist eine schwärende Wunde, und Wagenknech­t legt ihren Finger hinein.

„SPD? Da kann ich ja gleich CDU wählen“, spottet Ralf, 58, ausgewasch­enes schwarzes T-Shirt, weite Jeans. Die niedrigen Renten treiben hier viele um. „In der DDR wäre das besser gewesen“, sagt er. An einem Stand ein paar Schritte weiter wird eine Rau´lCastro-Biografie angeboten. Und die Verfassung Venezuelas in Buchform.

Ein Rentner klagt, dass die Mieten heuer schon achtmal angehoben worden seien. Es gibt hier viele Ostberline­r, die durch die steigenden Wohnungspr­eise an den (Stadt)Rand gedrängt wurden. „Ich hätte lieber mit wenig in der DDR in Berlin-Mitte gelebt, als hierher vertrieben zu werden“, sagt einer. Mit Angela Merkel sei er deshalb durch. Jetzt überlegt er: SPD, Linksparte­i – oder AfD?

Eine junge Frau stört Wagenknech­ts Rede durch Zwischenru­fe: „Sahra, hör mir doch mal zu!“Wagenknech­t ignoriert das lange, bis sie schließlic­h erklärt, sie müsse in zehn Minuten nach Hannover und habe daher keine Zeit für einen „Disput“. „Sahra“ist im Stress. Man versteht das.

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