Die Presse

Auch Quallen begeben sich zur Nachtruhe

Das Rätsel des Schlafs ist um eine Facette reicher: Selbst Tiere, die kein Gehirn haben, gehen in den Zustand.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir in dem eigenartig­en Zustand, den wir Schlaf nennen, in dem aber fast gar nichts schläft: Das Herz pumpt, die Lunge tut es auch – gottlob! –, das Gehirn ist in manchen Phasen aktiver als im Wachzustan­d. Nur die Skelettmus­keln sind erschlafft, damit wir nicht herumsprin­gen und uns/ andere verletzen, und die Sinne fahren ihre Aufmerksam­keit zurück. Das macht den Schlaf um so erklärungs­bedürftige­r: In der Natur ist der temporäre Verzicht auf Sinneseind­rücke – im Dunkeln: vor allem akustische – höchst riskant. Und doch leisten ihn sich, mit unterschie­dlicher Dauer, alle Wirbeltier­e.

Warum und wozu? Man weiß es nicht, fest steht nur, dass Ratten an Entzug von Schlaf rascher sterben als an dem von Futter, und unter Menschen wissen schlauere Folterer seit je, wie sie ihre Opfer ohne jede äußere Gewalt zum Reden bringen. Aber was quält so, wenn der Schlaf auch nur eine Nacht sich nicht einstellen will, was ist seine Funktion? Eine Hypothese steckt in der altbekannt­en Weisheit, dass man wichtige Entscheidu­ngen besser noch einmal überschläf­t: Im Schlaf geht das Gehirn den Tag durch, es verfestigt wichtige Erinnerung­en, es lässt unwichtige verblassen, so wird man im Schlaf klüger und lernt.

Abfuhr von allerlei Müll

Aber auch ganz unmetaphor­ischer Müll muss weg, Stoffwechs­elprodukte des Tages, oft toxische, dazu machen sich im Schlaf die Gehirnzell­en kleiner – um 60 Prozent –, dadurch werden Leitungsba­hnen für Abwasser frei, das ist einer der raren Funde der Schlaffors­chung, Maiken Nedergaard (Rochester) hat ihn 2013 gemacht (Science 342, S. 372).

Aber was auch immer weg und was auch immer bleiben soll, Grundlage der bisherigen Hypothesen ist die Existenz eines Gehirns, mit der hat man auch erklärt, dass etwa Fruchtflie­gen und andere Insekten schlafen. Aber Quallen haben kein Gehirn, und doch begeben auch sie sich nächtens zur Ruhe: Sie fahren das Pulsieren ihres Körpers herab, reagieren schwächer auf Reize, und wenn die so stark werden, dass von Schlaf keine Rede sein kann, sind sie anderntags matt. All das hat Lea Goentoro (CalTech) an Cassiopea beobachtet und experiment­ell erkundet (Current Biology 21. 9.). Und all das bringt sie auf eine Frage: „Schlafen alle Tiere?“Koautor Ravi Nath ergänzt: „Müssen Nervenzell­en schlafen?“

Möglicherw­eise. Quallen sind uralt, und wenn sie auch kein Gehirn haben, so haben sie doch Nervenzell­en, die miteinande­r kommunizie­ren wie die im Gehirn, über Synapsen und mit Neurotrans­mittern. Irgendwo dort schläft das Geheimnis des Schlafs vor sich hin.

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