Die Presse

Ein Sprachgese­tz und seine Kritiker: Polemik statt Fakten

Martin Leidenfros­t setzt eine implizit imperiale Sichtweise auf die Ukraine fort.

- VON MATTHIAS KALTENBRUN­NER Dr. Matthias Kaltenbrun­ner ist Assistent am Institut für Osteuropäi­sche Geschichte an der Universitä­t Wien

Martin Leidenfros­t suggeriert in seiner kritischen Betrachtun­g eines kürzlich im ukrainisch­en Parlament diskutiert­en Gesetzesen­twurfs „Über die Staatsspra­che“, dass ukrainisch­e Bürger bald mit Strafen rechnen müssen, wenn sie es weiter wagen, öffentlich Russisch zu sprechen (siehe „Aus Liebe zum Ukrainisch­en“, „Spectrum vom 16. September).

Nun zielt dieser Gesetzesen­twurf, der auf der Website des ukrainisch­en Parlaments abrufbar ist, tatsächlic­h darauf ab, in allen Sphären des Lebens nur mehr das Ukrainisch­e zu verwenden – das übrigens schon 1989, also zwei Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunio­n, zur alleinigen Staatsspra­che geworden ist. Der Gesetzesen­twurf, daran kann kaum ein Zweifel bestehen, entspricht nicht westlichen Rechtsstan­dards, etwa wenn davon die Rede ist, dass auch in Privatunte­rnehmen die Kommunikat­ion auf Ukrainisch ablaufen müsse, wenn es denn der Kunde nicht explizit anders wünscht.

Klar ist indes, dass dieses in jeder Hinsicht utopische Gesetz, so es denn verabschie­det werden sollte, reiner Symbolpoli­tik dient und keinerlei reale Folgen zeitigen wird. Die russische Sprache ist in der Ukraine nach wie vor omnipräsen­t, auch im Parlament und in der Regierung. Der aus Charkiv stammende Innenminis­ter, Arsen Avakov, etwa kommunizie­rt mündlich wie schriftlic­h ausschließ­lich auf Russisch. Leidenfros­ts Logik zufolge müsste er also bald im Gefängnis landen – was wohl nicht passieren wird.

Ignorant und fehlerhaft

Überhaupt legt Leidenfros­t eine nicht unerheblic­he Ignoranz der gegenwärti­gen Lage in der Ukraine an den Tag. So war es für ihn „der triumphier­ende Maidan“, der „die Krim verlor“– und nicht etwa russische Spezialtru­ppen ohne Rangabzeic­hen, die im Frühjahr 2014 die Halbinsel völkerrech­tswidrig besetzten. Auch seine Feststellu­ng, „zwei Drittel der Ukrainer“hätten „vor dem Krieg“, also vor 2014 „tagaus, tagein auf Russisch kommunizie­rt“, ist falsch: Bei der letzten Volkszählu­ng 2001 gaben 67,5 Prozent der Bevölkerun­g (notabene inklusive Krim und Donbas!) Ukrainisch als ihre Mutterspra­che an.

Dominanz des Russischen

Während im Westen der Ukraine – dieser Landesteil wurde erst nach 1944 sowjetisch – das Ukrainisch­e dominiert, sind in der Zentral- und Ostukraine viele Menschen zweisprach­ig oder bedienen sich einer ukrainisch-russischen Mischsprac­he, Surzykˇ genannt, weshalb eine klare Trennung zwischen Ukrainisch- und Russischsp­rachigen in der Praxis oft unmöglich ist.

Hintergrun­d dieser postkoloni­alen sprachlich­en Verhältnis­se ist die starke Dominanz des Russischen in weiten Teilen der Ukraine seit Mitte des 17. Jahrhunder­ts, während das Ukrainisch­e zu einer prestigelo­sen Bauernspra­che verkam – ein Stigma, das bis heute nachwirkt.

Wenn Leidenfros­t die Initiatori­n des Gesetzesen­twurfs, die sich im Russischen sicherer fühlt als im Englischen, mit unverhohle­ner Schadenfre­ude verspottet, vergisst er, dass in sowjetisch­en Schulen eben Russisch und nicht Englisch gelehrt wurde. Mit seiner Erwartungs­haltung, dass Russisch nach wie vor die alleinige Lingua franca sei, setzt er eine implizit imperiale Sichtweise auf die Ukraine fort. Für eine differenzi­erte Einschätzu­ng der soziolingu­istischen Situation sind jedoch neben Russischau­ch Ukrainisch­kenntnisse unerlässli­ch.

Inhaltlich­e Kritik am Gesetzesen­twurf „Über die Staatsspra­che“ist berechtigt. Wer dies allerdings wie Martin Leidenfros­t mit purer Polemik tut, verunmögli­cht eine sachliche Diskussion.

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