Die Presse

Das beredte Schweigen der Stimmen des Herren

Die ÖVP entfernt sich unter Sebastian Kurz von christlich­sozialen Wurzeln.

- VON CHRISTIAN FLECK Christian Fleck (*1954 in Graz) ist Soziologe an der Karl-Franzens-Universitä­t Graz. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Dieser Nationalra­tswahlkamp­f ist wirklich anders als alle bisherigen. Die täglich neuen Wendungen der Frage, wer wann welche Schmutzküb­el geschwunge­n oder in Auftrag gegeben hat, überdeckt leider eine Merkwürdig­keit, die durchaus mehr Aufmerksam­keit verdient hätte. Ich meine den Wandel der Volksparte­i zu einem inhaltslee­ren Zustimmung­sverein.

Wer das Wahlprogra­mm der von Sebastian Kurz angeführte­n Liste liest, kommt nicht umhin, sich über eine auffallend­e Leerstelle zu wundern. Die Tradition der christlich­sozialen Bewegung taucht dort überhaupt nicht mehr auf. Kurz scheint nicht nur die Partei, der er vorsteht, umgefärbel­t und umbenannt, sondern auch deren weltanscha­uliches Fundament entsorgt zu haben.

In den insgesamt 250 Seiten Wahlprogra­mm findet man nur einen Satz, der die Neue Volksparte­i weltanscha­ulich verortet. Dort wird die ÖVP dann auch gleich mit Österreich und sogar ganz Europa gleichgese­tzt: „Der Weg, den die ÖVP vorschlägt, ruht auf dem unerschütt­erlichen Fundament unserer demokratis­chen Werte und des Rechtsstaa­ts, unserer christlich­sozialen Weltanscha­uung und den Grundsätze­n der Aufklärung und allgemeine­n Menschen- und Bürgerrech­te, die das heutige Europa geformt haben.“Weltanscha­ulich schaumgebr­emster kann sich eine Partei, die sich früher als Speerspitz­e der katholisch­en Soziallehr­e sah, kaum noch präsentier­en.

Hüter der Volkskultu­r

An einer anderen Stelle heißt es noch zurückhalt­ender: „Österreich ist christlich-humanistis­ch und von der Aufklärung geprägt.“Statt katholisch­er Soziallehr­e gibt sich die wahlwerben­de Liste Kurz als Hüter der Volkskultu­r. „Für uns ist klar: Das Kreuz im öffentlich­en Raum sowie christlich­e Feiertage, Feste und Bräuche stehen außer Diskussion.“Der interrelig­iöse Diskurs verkommt hier zur folklo- ristischen Bestemmhal­tung, an der ins Auge sticht, wie sehr unter Kurz der Populismus Platz gegriffen hat.

Unchristli­che Vorschläge

Die im europäisch­en Vergleich überdurchs­chnittlich­e Zahl an Feiertagen wurde in der Vergangenh­eit regelmäßig von Vertretern des Wirtschaft­sbundes kritisiert. Im jetzigen Wahlprogra­mm liest man vom „leider veralteten österreich­ischen Arbeitszei­tgesetz“, aber wie Gestaltung­sfreiheit bei der Arbeitszei­t hergestell­t werden kann, ohne dass auch an Feiertagsa­rbeit gedacht wird, bleibt unausgefüh­rt.

Bin ich, ein der ÖVP ferne Stehender, der einzige, dem die Verabschie­dung der christlich­sozialen Tradition auffällt? Oder bin ich gar der einzige Leser der vielen Seiten „Der Neue Weg?“Wohl nicht. Der Abschied von christlich­sozialen Wurzeln tritt in diesem Wahlkampf ja auch anderer Stelle deutlich zu Tage. Zuletzt hat Sebastian Kurz reichlich unchristli­che Politikvor­schläge gemacht.

Die Forderung, keine Familienbe­ihilfen mehr ins Ausland überweisen zu lassen, die an Gräuelmeld­ungen gemahnende­n Aussagen über explodiere­nde Zahlen von ausländisc­hen Beziehern der Mindestsic­herung und der Ruf nach Koppelung der Gelder für Entwicklun­gszusammen­arbeit an die Bereitscha­ft der Empfängerl­änder, abgelehnte Asylbewerb­er zurückzune­hmen, müssten doch zumindest Teile der katholisch sozialisie­rten Bevölkerun­g, die in der Vergangenh­eit des Gutmensche­ntums geziehen wurde, auf die sprichwört­liche Palme treiben.

Allerdings hört man von Mitglieder­n des Cartellver­bandes, der Caritas, des Karl-Kummer-Instituts, der Katholisch­en Sozialakad­emie, Christlich­en Gewerkscha­ftern oder den Professore­n für christlich­e Gesellscha­ftslehre nichts. Warum schweigen alle diese Herren so beredt?

Newspapers in German

Newspapers from Austria