Das beredte Schweigen der Stimmen des Herren
Die ÖVP entfernt sich unter Sebastian Kurz von christlichsozialen Wurzeln.
Dieser Nationalratswahlkampf ist wirklich anders als alle bisherigen. Die täglich neuen Wendungen der Frage, wer wann welche Schmutzkübel geschwungen oder in Auftrag gegeben hat, überdeckt leider eine Merkwürdigkeit, die durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Ich meine den Wandel der Volkspartei zu einem inhaltsleeren Zustimmungsverein.
Wer das Wahlprogramm der von Sebastian Kurz angeführten Liste liest, kommt nicht umhin, sich über eine auffallende Leerstelle zu wundern. Die Tradition der christlichsozialen Bewegung taucht dort überhaupt nicht mehr auf. Kurz scheint nicht nur die Partei, der er vorsteht, umgefärbelt und umbenannt, sondern auch deren weltanschauliches Fundament entsorgt zu haben.
In den insgesamt 250 Seiten Wahlprogramm findet man nur einen Satz, der die Neue Volkspartei weltanschaulich verortet. Dort wird die ÖVP dann auch gleich mit Österreich und sogar ganz Europa gleichgesetzt: „Der Weg, den die ÖVP vorschlägt, ruht auf dem unerschütterlichen Fundament unserer demokratischen Werte und des Rechtsstaats, unserer christlichsozialen Weltanschauung und den Grundsätzen der Aufklärung und allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte, die das heutige Europa geformt haben.“Weltanschaulich schaumgebremster kann sich eine Partei, die sich früher als Speerspitze der katholischen Soziallehre sah, kaum noch präsentieren.
Hüter der Volkskultur
An einer anderen Stelle heißt es noch zurückhaltender: „Österreich ist christlich-humanistisch und von der Aufklärung geprägt.“Statt katholischer Soziallehre gibt sich die wahlwerbende Liste Kurz als Hüter der Volkskultur. „Für uns ist klar: Das Kreuz im öffentlichen Raum sowie christliche Feiertage, Feste und Bräuche stehen außer Diskussion.“Der interreligiöse Diskurs verkommt hier zur folklo- ristischen Bestemmhaltung, an der ins Auge sticht, wie sehr unter Kurz der Populismus Platz gegriffen hat.
Unchristliche Vorschläge
Die im europäischen Vergleich überdurchschnittliche Zahl an Feiertagen wurde in der Vergangenheit regelmäßig von Vertretern des Wirtschaftsbundes kritisiert. Im jetzigen Wahlprogramm liest man vom „leider veralteten österreichischen Arbeitszeitgesetz“, aber wie Gestaltungsfreiheit bei der Arbeitszeit hergestellt werden kann, ohne dass auch an Feiertagsarbeit gedacht wird, bleibt unausgeführt.
Bin ich, ein der ÖVP ferne Stehender, der einzige, dem die Verabschiedung der christlichsozialen Tradition auffällt? Oder bin ich gar der einzige Leser der vielen Seiten „Der Neue Weg?“Wohl nicht. Der Abschied von christlichsozialen Wurzeln tritt in diesem Wahlkampf ja auch anderer Stelle deutlich zu Tage. Zuletzt hat Sebastian Kurz reichlich unchristliche Politikvorschläge gemacht.
Die Forderung, keine Familienbeihilfen mehr ins Ausland überweisen zu lassen, die an Gräuelmeldungen gemahnenden Aussagen über explodierende Zahlen von ausländischen Beziehern der Mindestsicherung und der Ruf nach Koppelung der Gelder für Entwicklungszusammenarbeit an die Bereitschaft der Empfängerländer, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen, müssten doch zumindest Teile der katholisch sozialisierten Bevölkerung, die in der Vergangenheit des Gutmenschentums geziehen wurde, auf die sprichwörtliche Palme treiben.
Allerdings hört man von Mitgliedern des Cartellverbandes, der Caritas, des Karl-Kummer-Instituts, der Katholischen Sozialakademie, Christlichen Gewerkschaftern oder den Professoren für christliche Gesellschaftslehre nichts. Warum schweigen alle diese Herren so beredt?