Harte Zeiten für große Pläne
Reform. Auch wenn viele Ideen auf dem Tisch liegen, kann eine neue Regierung sie nicht einfach umsetzen. Es fehlt die Verfassungsmehrheit. Ein Instrument, mit dem man lange leichtfertig umging.
Wien. Eine Staatsreform hier, ein überarbeitetes Wahlrecht da und gleich noch ein neues Schulsystem dazu. Vor der Wahl überschlagen sich die Parteien förmlich mit ihren Reformideen. Doch da gibt es einen Haken.
Egal, wer die nächste Regierung stellen wird, sie wird kaum eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat hinter sich haben. Und damit nicht die nötige Verfassungsmehrheit, um große Reformen überhaupt beschließen zu können.
Früher war das anders. Da war es nicht nur selbstverständlich, dass Rot und Schwarz zusammen das Land führten. Sondern auch, dass sie mit einer Verfassungsmehrheit regierten. Und diese wie naturgegeben einsetzten.
Freilich nicht nur für Reformen, sondern manchmal sogar, um das Gegenteil davon zu tun. Als der Verfassungsgerichtshof (VfGH) Anfang der 1990er-Jahre entschied, dass das unterschiedliche Pensionsalter von Frauen und Männern rechtswidrig ist, beschloss die Politik, die unterschiedliche Regelung für ein paar weitere Jahrzehnte in der Verfassung abzusichern. Da die Regelung somit Teil der Verfassung wurde, konnte sie nicht mehr verfassungswidrig sein. Dem VfGH ist die Prüfung der Materie seither entzogen.
Ein beliebtes Spiel der Politik. Auch die zahlenmäßige Beschränkung der Wiener Taxilizenzen landete einst im Verfassungsrang, weil sie sonst dem Grundrecht auf freie Erwerbsausübung widersprochen hätte. Auch wurde die Zweidrittelmehrheit benutzt, um Dinge in die Verfassung zu schreiben, die der Parteimacht dienten: So sicherte Rot-Schwarz die Kammern im Verfassungsrang ab.
Die letzte Regierung, die über eine Verfassungsmehrheit verfügte, war jene unter Kanzler Alfred Gusenbauer (bis 2008). Ohne Zweidrittelmehrheit muss eine Koalition mit den anderen Parteien verhandeln. So brauchte die jetzige rotschwarze Regierung immer wieder die Hilfe der Opposition.
Kein Ausbau der Kanzlermacht
Auch künftig muss die Kanzlerpartei nicht nur den Koalitionspartner, sondern auch Teile der Opposition von großen Reformvorhaben überzeugen. Doch bei vielen Plänen wird das mangels eines politischen Konsenses nicht passieren. Wenn Sebastian Kurz etwa sich als Kanzler eine Richtlinienkompetenz wünscht, wird diese ein Wunsch bleiben. Ebenso sind Vorhaben aus dem Plan A von Christian Kern (zum Beispiel, dass die Kanzlerpartei künftig einen Mandatsbonus erhält) ohne Verfassungsänderung nicht realisierbar. Sollte es überra- schend doch noch eine linke Mehrheit geben, wird sie trotzdem keine flächendeckende Gesamtschule einführen können. Auch dafür bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit, die nicht in Sicht ist.
Kommt eine schwarz-blaue Regierung, dürfte sich das Spiel aus den frühen 2000er-Jahren wiederholen, als deren Vorhaben von linken Abgeordneten vor dem VfGH angefochten wurden. Die Richter kippten auch diverse schwarzblaue Gesetze, etwa zur Reform des Hauptverbands der Sozialversicherungen, die Unfallrentenbesteuerung oder die Ambulanzgebühren.
Damals verfügte die SPÖ über mehr als ein Drittel der Abgeordneten und damit über eine Sperrminorität. Sie konnte Verfassungsbeschlüsse verhindern und kraft Fraktionsgröße einfache Gesetze beim VfGH anfechten. Eine ähnliche Situation mit umgekehrtem Farbenspiel könnte es nach den jetzigen Umfragedaten geben, falls die ÖVP zwar mehr als ein Drittel der Abgeordneten erhält, aber trotzdem Rot und Blau eine Regierung bilden.
Wohl nur, wenn wider Erwarten alle Kleinparteien (Grüne, Neos, Pilz) den Einzug in den Nationalrat verfehlen, könnte eine Zweiparteienregierung mit Verfassungsmehrheit herauskommen. Sonst wird die neue Regierung große Reformen nur mithilfe der Opposition durchziehen können.
Nun ist es zwar demokratiepolitisch gut, wenn die Opposition in wichtigen Fragen mitreden kann. Doch je mehr Leute am Tisch sitzen, desto schwieriger wird es auch, eine Reform zu beschließen. Nachzufragen beim einstigen Österreich-Konvent. Wobei eine Staatsreform auch an den Landeshauptleuten scheitern könnte. Die haben zwar rechtlich betrachtet hier nichts mitzureden. Sie können aber realpolitisch gesehen einer mit bloß knapper Mehrheit ausgestatteten Bundesregierung noch mehr Kontra geben als sonst.
Parlament reicht nicht immer
Dann gibt es Parteipläne, die selbst mit einer Zweidrittelmehrheit allein noch nicht realisierbar wären, etwa ein aktives und passives Ausländerwahlrecht, wie es die Neos für EU-Bürger wollen. Ein Erkenntnis des VfGH aus dem Jahr 2006 legt nahe, dass ein Ausländerwahlrecht erst nach einer Volksabstimmung umsetzbar wäre, weil es die Verfassung fundamental verändern würde. Steht darin doch, dass das Recht vom Volk (Singular) ausgeht.
Und dann wäre da noch eine Sache: Alle Dinge, die man einst in die Verfassung hob, kann man jetzt auch nur mehr mit Zweidrittelmehrheit wieder abschaffen. Nur dass diese Mehrheit inzwischen viel schwieriger zu finden ist als vielleicht beim Beschluss gedacht.