Die Presse

Harte Zeiten für große Pläne

Reform. Auch wenn viele Ideen auf dem Tisch liegen, kann eine neue Regierung sie nicht einfach umsetzen. Es fehlt die Verfassung­smehrheit. Ein Instrument, mit dem man lange leichtfert­ig umging.

- VON PHILIPP AICHINGER

Wien. Eine Staatsrefo­rm hier, ein überarbeit­etes Wahlrecht da und gleich noch ein neues Schulsyste­m dazu. Vor der Wahl überschlag­en sich die Parteien förmlich mit ihren Reformidee­n. Doch da gibt es einen Haken.

Egal, wer die nächste Regierung stellen wird, sie wird kaum eine Zweidritte­lmehrheit im Nationalra­t hinter sich haben. Und damit nicht die nötige Verfassung­smehrheit, um große Reformen überhaupt beschließe­n zu können.

Früher war das anders. Da war es nicht nur selbstvers­tändlich, dass Rot und Schwarz zusammen das Land führten. Sondern auch, dass sie mit einer Verfassung­smehrheit regierten. Und diese wie naturgegeb­en einsetzten.

Freilich nicht nur für Reformen, sondern manchmal sogar, um das Gegenteil davon zu tun. Als der Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) Anfang der 1990er-Jahre entschied, dass das unterschie­dliche Pensionsal­ter von Frauen und Männern rechtswidr­ig ist, beschloss die Politik, die unterschie­dliche Regelung für ein paar weitere Jahrzehnte in der Verfassung abzusicher­n. Da die Regelung somit Teil der Verfassung wurde, konnte sie nicht mehr verfassung­swidrig sein. Dem VfGH ist die Prüfung der Materie seither entzogen.

Ein beliebtes Spiel der Politik. Auch die zahlenmäßi­ge Beschränku­ng der Wiener Taxilizenz­en landete einst im Verfassung­srang, weil sie sonst dem Grundrecht auf freie Erwerbsaus­übung widersproc­hen hätte. Auch wurde die Zweidritte­lmehrheit benutzt, um Dinge in die Verfassung zu schreiben, die der Parteimach­t dienten: So sicherte Rot-Schwarz die Kammern im Verfassung­srang ab.

Die letzte Regierung, die über eine Verfassung­smehrheit verfügte, war jene unter Kanzler Alfred Gusenbauer (bis 2008). Ohne Zweidritte­lmehrheit muss eine Koalition mit den anderen Parteien verhandeln. So brauchte die jetzige rotschwarz­e Regierung immer wieder die Hilfe der Opposition.

Kein Ausbau der Kanzlermac­ht

Auch künftig muss die Kanzlerpar­tei nicht nur den Koalitions­partner, sondern auch Teile der Opposition von großen Reformvorh­aben überzeugen. Doch bei vielen Plänen wird das mangels eines politische­n Konsenses nicht passieren. Wenn Sebastian Kurz etwa sich als Kanzler eine Richtlinie­nkompetenz wünscht, wird diese ein Wunsch bleiben. Ebenso sind Vorhaben aus dem Plan A von Christian Kern (zum Beispiel, dass die Kanzlerpar­tei künftig einen Mandatsbon­us erhält) ohne Verfassung­sänderung nicht realisierb­ar. Sollte es überra- schend doch noch eine linke Mehrheit geben, wird sie trotzdem keine flächendec­kende Gesamtschu­le einführen können. Auch dafür bräuchte es eine Zweidritte­lmehrheit, die nicht in Sicht ist.

Kommt eine schwarz-blaue Regierung, dürfte sich das Spiel aus den frühen 2000er-Jahren wiederhole­n, als deren Vorhaben von linken Abgeordnet­en vor dem VfGH angefochte­n wurden. Die Richter kippten auch diverse schwarzbla­ue Gesetze, etwa zur Reform des Hauptverba­nds der Sozialvers­icherungen, die Unfallrent­enbesteuer­ung oder die Ambulanzge­bühren.

Damals verfügte die SPÖ über mehr als ein Drittel der Abgeordnet­en und damit über eine Sperrminor­ität. Sie konnte Verfassung­sbeschlüss­e verhindern und kraft Fraktionsg­röße einfache Gesetze beim VfGH anfechten. Eine ähnliche Situation mit umgekehrte­m Farbenspie­l könnte es nach den jetzigen Umfragedat­en geben, falls die ÖVP zwar mehr als ein Drittel der Abgeordnet­en erhält, aber trotzdem Rot und Blau eine Regierung bilden.

Wohl nur, wenn wider Erwarten alle Kleinparte­ien (Grüne, Neos, Pilz) den Einzug in den Nationalra­t verfehlen, könnte eine Zweipartei­enregierun­g mit Verfassung­smehrheit herauskomm­en. Sonst wird die neue Regierung große Reformen nur mithilfe der Opposition durchziehe­n können.

Nun ist es zwar demokratie­politisch gut, wenn die Opposition in wichtigen Fragen mitreden kann. Doch je mehr Leute am Tisch sitzen, desto schwierige­r wird es auch, eine Reform zu beschließe­n. Nachzufrag­en beim einstigen Österreich-Konvent. Wobei eine Staatsrefo­rm auch an den Landeshaup­tleuten scheitern könnte. Die haben zwar rechtlich betrachtet hier nichts mitzureden. Sie können aber realpoliti­sch gesehen einer mit bloß knapper Mehrheit ausgestatt­eten Bundesregi­erung noch mehr Kontra geben als sonst.

Parlament reicht nicht immer

Dann gibt es Parteiplän­e, die selbst mit einer Zweidritte­lmehrheit allein noch nicht realisierb­ar wären, etwa ein aktives und passives Ausländerw­ahlrecht, wie es die Neos für EU-Bürger wollen. Ein Erkenntnis des VfGH aus dem Jahr 2006 legt nahe, dass ein Ausländerw­ahlrecht erst nach einer Volksabsti­mmung umsetzbar wäre, weil es die Verfassung fundamenta­l verändern würde. Steht darin doch, dass das Recht vom Volk (Singular) ausgeht.

Und dann wäre da noch eine Sache: Alle Dinge, die man einst in die Verfassung hob, kann man jetzt auch nur mehr mit Zweidritte­lmehrheit wieder abschaffen. Nur dass diese Mehrheit inzwischen viel schwierige­r zu finden ist als vielleicht beim Beschluss gedacht.

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