Die Presse

Die Geisterboo­te aus Tunesien

Neue Fluchtrout­e. Italienisc­he Behörden schlagen Alarm. Auf Sizilien stranden fast jeden Tagen illegale Migranten aus Tunesien. Darunter könnten sich auch IS-Rückkehrer befinden. Spanien verzeichne­t steigenden Zustrom aus Marokko.

- Von unserem Korrespond­enten MARTIN GEHLEN

Tunis. Die Bewohner auf Sizilien nennen sie Geisterboo­te. Fast jeden Morgen finden sich an den Stränden neue Kähne, deren Insassen bei Nacht heimlich an Land geschliche­n sind. Die allermeist­en sind Tunesier. Nur ein Bruchteil von ihnen lässt sich offiziell registrier­en, weil sie in Europa keine Chance auf Asyl haben.

Die meisten dagegen tauchen sofort unter und versuchen sich als Illegale durchzusch­lagen. Unter diesen Verschwund­enen aber könnten, so befürchten die italienisc­hen Behörden, auch tunesische IS-Rückkehrer sein sowie Straftäter und abgelehnte Asylbewerb­er, die zuvor unter großem bürokratis­chem Aufwand aus Europa abgeschobe­n worden sind. Auf Sizilien griff die Polizei kürzlich Tunesier auf, die daheim per Amnestie aus dem Gefängnis entlassen worden waren. Vor allem das macht diese neue Ausreisewe­lle aus dem kleinen, kaum 200 Kilometer entfernten Mittelmeer­anrainer so brisant, die vor rund sechs Wochen plötzlich begann.

Beim Chaos-Nachbarn Libyen dagegen gehen in letzter Zeit deutlich weniger Migranten auf die Boote, weil Milizen in Sabratha, die der Zentralreg­ierung in Tripolis gehorchen, gegen die Schmuggelb­anden vorgehen. Im Vergleich zum Vorjahr ging die Zahl der Überfahrte­n nach Italien um 25 Prozent zurück, bilanziert­e diese Woche die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM). Kamen bis Mitte Oktober 2016 noch 144.400 Migranten, waren es im gleichen Zeitraum 2017 nur noch etwa 107.000.

Dafür steigen nun die Überfahrte­n an anderen Stellen des Mittelmeer­s – vor allem von Tunesien und Marokko aus. Die Zahl der Neuankömml­inge in Spanien verdoppelt­e sich in den vergangene­n neun Monaten im Vergleich zum Vorjahr von 5400 auf über 12.300. Parallel dazu stiegen im September die Überfahrte­n von Tunesien nach Sizilien und Lampedusa sprunghaft an. Nach Angaben des IOM-Sprechers in Rom, Flavio Di Giacomo, pendelte die Zahl der tunesische­n Migranten in den vergangene­n drei Jahren stets zwischen 900 und 1600. So auch von Jänner bis August 2017, als rund 1350 kamen.

Flucht vor der Wirtschaft­smisere

Im September jedoch wendete sich das Blatt und ließen sich mit einem Schlag 1400 Tunesier in Italien registrier­en. Einer beträchtli­ch höheren Zahl gelang es, sich der Polizei zu entziehen. So zeigt ein Strandvide­o auf Sizilien, wie früh am Morgen etwa 50 Schiffsins­assen im Eiltempo an Land waten. Dreißig Minuten später sind alle spurlos verschwund­en. Das sei ein neuer Trend, der jedoch nichts mit der „blockierte­n“Lage in Libyen zu tun habe, „weil die Nationalit­äten andere sind“, erklärte Di Giacomo. Denn in den Tunesien-Kuttern sitzen keine Schwarzen aus Westafrika, die nach Alternativ­en zur LibyenRout­e suchen, sondern Einheimisc­he aus der Wiege des Arabischen Frühlings, die ihrer Wirtschaft­smisere und der katastroph­alen Arbeitslos­igkeit entkommen wollen.

Die politische Führung Tunesiens schweigt sich über die Dimensione­n dieser neuen Migration bisher aus. Sie fürchtet, ein signifikan­ter Anstieg des Menschensc­hmuggels vom eigenen Territoriu­m aus könnte die internatio­nalen Geldgeber verärgern, die mit ihren Krediten das straucheln­de Land bisher auf den Beinen halten. Lediglich die Festnahmen durch die Küstenwach­e wurden bisher bekannt gegeben, die ebenfalls in die Höhe schnellen. Seit Jahresbegi­nn verhaftete­n die Beamten 1650 Tunesier in Küstennähe, zwei Drittel von ihnen allein im August und September. Die Hälfte aller beschlagna­hmten Schiffe waren Schnellboo­te, die den Weg nach Italien in wenigen Stunden schaffen.

Die meisten Migranten jedoch werden nach wie vor auf Fischkutte­rn vor die italienisc­he Küste gebracht, dort in schmalen Booten ausgesetzt, die später verlassen an den Stränden liegen. Wie das Tunesische Forum für ökonomisch­e und soziale Rechte (FTDES) ermittelte, riskieren derzeit vor allem junge Männer zwischen 20 und 30 die Überfahrt, die meisten ohne Ausbildung, ohne Arbeit und ohne Perspektiv­e. Aber auch viele junge Tunesierin­nen wollen laut einer Umfrage des Forums nichts wie weg aus ihrer Heimat. Mehr als 40 Prozent gaben an, sie würden am liebsten nach Europa abhauen.

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