Die Presse

Das Erbe von Wiens Armensiedl­ungen

Forschungs­projekt. Die Geschichte der wilden Besiedlung Wiens nach dem ersten Weltkrieg soll der Öffentlich­keit erschlosse­n werden – und das Erbe der „Bretteldör­fer“, das bis heute nachwirkt.

- VON ERICH KOCINA

Wien. Wien hat zu wenig Wohnraum. Dieses Phänomen gehört zu den größten Herausford­erungen, mit denen die Stadt derzeit konfrontie­rt ist. Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass der Bedarf deutlich größer ist als das Angebot. Etwa auch nach der Ausrufung der Republik am 12. November 1918 herrschte in Wien massive Wohnungsno­t – unter anderem, weil ehemalige Beamte und Heeresange­hörige aus den früheren Kronländer­n zurückkehr­ten, aber auch wegen demografis­cher Verschiebu­ngen. Die Existenzno­t der Bevölkerun­g gipfelte schließlic­h darin, dass spontan illegal Land besetzt wurde und die Menschen dort primitive Unterständ­e oder Hütten errichtete­n.

Auf diese Weise entstanden etwa die Friedenssi­edlung auf dem Boden des Lainzer Tiergarten­s oder das Bretteldor­f nördlich der Donau. „Bretteldör­fer“ist denn auch eine Sammelbeze­ichnung, die für derartige wilde Siedlungen mit ihren Holzhütten in den Sprachgebr­auch einzog. Neben dem Wohnraum konnten die Menschen dort auch Nahrungsmi­ttel selbst anbauen. In den Wirren der Nachkriegs­zeit war die Staatsmach­t nicht in der Lage, selbst die Versorgung der Menschen sicherzust­ellen. Nach und nach wurden die primitiven Behausunge­n durch Häuser aus massiveren Materialie­n ersetzt. Und nach und nach wirkte auch die Stadt selbst daran mit, derartige Siedlungen zu organisier­en, und errichtete eigene kommunale Siedlungen.

All diese Formen der Elendsurba­nisierung stehen nun im Mittelpunk­t des Forschungs­projekts „Bretteldor­f revisited“, das anlässlich der 100-Jahr-Feiern der Republik 2018 entstand. So widmen sich die Architekte­n und Urbanisten Andre Krammer und Friedrich Hauer den Bretteldör­fern. „Das war nicht nur eine Anekdote“, sagt Krammer, „sondern damals ein großer Teil der Wiener Stadtentwi­cklung.“

Das Bretteldor­f musste weg

Eine Entwicklun­g, deren Erbe noch heute zu sehen ist. Gut, vom Bretteldor­f in der Donaustadt ist nicht mehr viel geblieben – die Siedlung musste der Gartenbaum­esse WIG 64 weichen, heute steht dort unter anderem der Donauturm. Als letzten sichtbaren Rest der Siedlung gibt es noch die Russenkirc­he vor der UNO-City.

Doch einige der ursprüngli­ch illegal errichtete­n Siedlungen haben ihre Spuren bis heute hinterlass­en. „Aus der Siedlung Bruckhaufe­n ist etwa eine Kleingarte­nsiedlung hervorgega­ngen“, sagt Krammer. So wie auch einige andere heute noch als Anlagen mit kleinen Gärten im Stadtbild zu fin- den sind. „1996 gab es das Wiener Kleingarte­ngesetz, das die eigentlich informelle­n Strukturen legalisier­t hat.“Was bis dahin informell geregelt war, wurde formalisie­rt – unter anderem ist seit damals auch das ganzjährig­e Wohnen im Schreberga­rten erlaubt.

„Diese Flächen stellen heute eine gewisse Hypothek dar“, sagt der Urbanist. „Weil in der wachsenden Großstadt gibt es damit ausgedehnt­e Flächen mit niedriger Dichte.“Gerade wenn Wohnraum knapp ist, über leistbares Wohnen diskutiert wird, ist der Druck auf derartige Grundstück­e stark. Wobei Krammer dafür plädiert, diesem Druck nicht nachzugebe­n. „Das gehört auch zum kulturelle­n Erbe der Stadt – man sollte da nicht Tabula rasa machen, sondern es in die Stadtentwi­cklung miteinbezi­ehen.“

Im Forschungs­projekt, das von der Stadt Wien gefördert wird, soll den verschiede­nen Aspekten der einst wilden Siedlungen auf den Grund gegangen werden. Unter anderem werden sie in Relation zu anderen Städten gestellt – etwa zu ähnlichen Siedlungen in Frankreich oder dem ehemaligen Jugoslawie­n, die noch heute existieren. Oder auch zu ähnlichen Entwicklun­gen in Österreich, zum Beispiel die Bocksiedlu­ng in Innsbruck.

Deswegen hat man auch die Dokumentar­filmerin Melanie Hollaus an Bord geholt, die bereits einen Film über diesen Ort gedreht hat. Sie soll unter anderem die Erinnerung­en von Zeitzeugen einfangen. Neben der filmischen Umsetzung ist aber auch eine eigene Ausgabe zum Thema in „Derive´ - Zeitschrif­t für Stadtforsc­hung“geplant, die im Frühjahr erscheinen soll. Auch Stadtführu­ngen auf den Spuren der wilden Siedler soll es geben. Schließlic­h steht auch ein Symposion auf der Liste, bei dem Zeitzeugen und Experten diskutiere­n sollen.

All das auf einem Level, das nicht nur für Experten interessan­t ist. Weil die Stadt Wien bei der Förderung des Projekts einen Schwerpunk­t auf die Vermittlun­g gesetzt hat, soll auch die breite Öffentlich­keit davon erfahren, wie sich die Stadt rund um diese Armensiedl­ungen entwickelt hat. Und welches Erbe sie hinterlass­en haben.

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